Süddeutsche Zeitung

Corona-Debatte im Bundestag:Die Reaktionen auf Merkels Rede fallen heftig aus

Die Kanzlerin argumentiert gewohnt nüchtern in der Debatte über das Infektionsschutzgesetz. Andere erhitzt besonders die Frage bundesweiter Ausgangssperren.

Von Angelika Slavik, Berlin

Zu den zentralen Eigenschaften Angela Merkels gehört ja, dass sie - anders als es das Anforderungsprofil für moderne Politiker vorschreibt - kaum zur Übertreibung neigt. Die Kanzlerin übt sich öffentlich meist in der Kunst der nüchternen Beschreibung, und als am Freitag der Bundestag über das Infektionsschutzgesetz debattiert, macht sie da keine Ausnahme. Um die dritte Welle der Corona-Pandemie endlich in den Griff zu bekommen, sagt Merkel gleich zu Beginn ihrer Rede, "müssen wir die Kraft von Bund, Ländern und Kommunen besser bündeln als zuletzt". Es gibt nicht wenige, die konstatieren würden, dass das eine ziemliche Untertreibung ist.

Dass am Freitag überhaupt über eine Änderung des Infektionsschutzgesetzes debattiert wird, liegt daran, dass es im deutschen Pandemiemanagement ordentlich gerumpelt hat - Bund, Länder und Kommunen fanden partout keinen gemeinsamen Nenner. Man könnte auch sagen: Es wurde eher gezündelt als gebündelt. Die Ministerpräsidentenkonferenz am 22. März, jene schon legendäre Nachtsitzung, in der eine Osterruhe beschlossen wurde, die kaum 30 Stunden später wieder kassiert wurde; dieses Treffen habe sie als "Zäsur" empfunden, sagt Merkel. Deswegen solle das Vorgehen für den Fall, dass in einer Region die Inzidenz über 100 steigt, nun auf Bundesebene geregelt werden. "Die Notbremse ist dann nicht mehr Auslegungssache."

Aber Auslegungsunterschiede bestehen natürlich dennoch, vor allem über die im Gesetz vorgesehene nächtliche Ausgangssperre gibt es heftige Diskussionen. Merkel sagt, sie verstehe, was das für ein fundamentaler Eingriff sei, aber das Virus verzeihe eben keine Halbherzigkeiten und kein Zögern. "Das Virus lässt nicht mit sich verhandeln, es versteht nur eine einzige Sprache, die Sprache der Entschlossenheit." Die Reaktionen fallen heftig aus, Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble sieht sich schon während Merkels Rede erstmals zum Aufruf genötigt, man möge doch bitte eine einigermaßen würdige Debattenkultur pflegen. In den folgenden gut anderthalb Stunden aber geht es heiß her - Zwischenrufe, Zwischenfragen und Zwischenbemerkungen, alles, was die Geschäftsordnung hergibt.

Karl Lauterbach streitet mit Christian Lindner

Die AfD-Politikerin Alice Weidel nennt die Ausgangssperre unverhältnismäßig. Die Regierung misstraue den Bürgern, deshalb "wollen Sie sie tagsüber gängeln und nachts einsperren". FDP-Chef Christian Lindner findet die Ausgangssperre "hochproblematisch". Wenn es keine Änderungen am Entwurf gebe, werde seine Fraktion Verfassungsbeschwerde einlegen. Er zitiert zudem eine Einschätzung des SPD-Abgeordneten Karl Lauterbach, wonach die Inzidenz in vielen Regionen lange über 100 bleiben und die Ausgangssperren somit über viele Wochen gelten würden. Das benachteilige alle, die nicht in komfortablen Wohnverhältnissen lebten: Die Studierenden in den Ein-Zimmer-Appartements, die Familien in den kleinen Wohnungen, "das ist ein enormer sozialer Schaden".

Als Lindner fertig ist, verlangt Lauterbach das Wort, er fühlt sich "zwar richtig, aber nicht vollständig" zitiert. Zwar bestehe das Risiko, dass die Inzidenz über Wochen hinweg nicht unter 100 gedrückt werden könne, das müsse aber nicht so sein, wenn es weitere flankierende Maßnahmen gebe. Insgesamt komme man "mit dieser Haltung, dass wir uns hier gegenseitig kompliziert erklären, was alles in Deutschland nicht funktioniert" nicht weiter, schimpft Lauterbach. Das lässt Lindner nicht auf sich sitzen, noch eine Entgegnung: Er habe sehr konkrete Maßnahmen vorgeschlagen, Kontaktreduktionen, Impfstrategie, Aufklärung auch in anderen Sprachen, referiert der FDP-Chef. Schlimmer aber sei, dass Lauterbach die Studien aus Frankreich ignoriere: Dort habe es über Monate eine Ausgangssperre ab 18 Uhr gegeben - und nun vermuteten Wissenschaftler, dass diese Maßnahme nicht geholfen, sondern die Lage womöglich sogar verschlimmert habe.

Seit dem Beginn der Pandemie vor mehr als einem Jahr gab es nicht viele Themen, die das Virus zumindest kurzzeitig von den Titelseiten verdrängen konnten - der Machtkampf in der Union zwischen CDU-Chef Armin Laschet und dem CSU-Vorsitzenden Markus Söder zählte in dieser Woche dazu. Der Fraktionschef der Linken, Dietmar Bartsch, findet das am Freitagmorgen gar nicht lustig. Es sei besonders verwerflich, "dass die Union das ganze Land mit ihren Personalproblemen belästigt", schimpft Bartsch. "Das sind die schwersten Tage der Pandemie, und Sie reden über Söder und Laschet!"

Den Grünen fehlt eine langfristige Strategie

Die Grüne Katrin Göring-Eckardt findet schließlich den Gesetzesentwurf genau wie die Maßnahmen der vergangenen Monate nicht konsequent genug, auch jetzt fehle es an einer langfristigen Strategie. Zudem, sagt Göring-Eckardt, sei die Stimmung der Menschen am Boden. Viele "schlagen sich mit den letzten Cents durch", aber vor allem fehle ihnen "die Aussicht und das Vertrauen, dass es gut werden wird, dass wir uns hier anstrengen".

Angela Merkel und Vizekanzler Olaf Scholz zumindest nehmen nach der Debatte noch Anstrengungen auf sich, beide bekommen Erstimpfungen. Beide mit dem zuletzt umstrittenen Impfstoff von Astra Zeneca. Sie danke allen, die sich in der Impfkampagne engagieren, und allen, die sich impfen lassen, schreibt Merkel im Anschluss bei Twitter. "Das Impfen ist der Schlüssel, um diese Pandemie zu überwinden."

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