Süddeutsche Zeitung

Corona:Bettenwunder auf der Intensivstation

Im vergangenen Jahr gab es viel Geld von den Krankenkassen für neue Intensivbetten. Manch ein Haus hat sich groß ausgerüstet. Doch viele stehen nach Recherchen von NDR, WDR und SZ im Keller.

Von Christina Berndt, Markus Grill und Palina Milling

In wohl keinem Land der Welt gab es schon vor Beginn der Corona-Pandemie so viele Intensivbetten wie in Deutschland. Im Durchschnitt sind es in den Industrieländern zwölf Intensivbetten auf 100 000 Einwohner, so sagt es eine Statistik der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD). In Kanada sind es 13, in Frankreich 16, in den USA 17, in Deutschland aber 34 Klinikbetten für Schwerstkranke. Doch im Angesicht der Pandemie erschien das dem Bundesgesundheitsministerium (BMG) in Berlin noch nicht genug.

Im März 2020, als in Bergamo die Covid-19-Kranken nicht mehr versorgt werden konnten und sich die Särge stapelten, motivierte es Deutschlands Krankenhäuser mit einem Förderprogramm, die hohe Zahl der Intensivbetten noch zu steigern. 50 000 Euro pro neuem Intensivbett, das war eine Verlockung für Kliniken, der viele nur zu gern nachgaben.

Somit wurden im vergangenen Jahr insgesamt 686 Millionen Euro für neue Intensivbetten an die Kliniken überweisen. Angesichts von 50 000 Euro pro Bett müssten dabei also 13 700 neue Intensivbetten herausgekommen sein - zusätzlich zu den 28 000 bereits bestehenden. Doch wo befinden sich diese Betten eigentlich? Das war selbst für den Bundesrechnungshof laut seinem jüngsten Bericht von Anfang Juni nicht nachvollziehbar. Er kritisierte Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) dafür, dass sein Haus "bis heute nicht in der Lage ist, die Zahl der tatsächlich aufgestellten sowie der zusätzlich angeschafften Intensivbetten verlässlich zu ermitteln".

Das hat man sich im Ministerium offenbar zu Herzen genommen. Bisher unbemerkt von der Öffentlichkeit hat das BMG eine Tabelle auf seiner Internetseite veröffentlicht, aus der sich ablesen lässt, wie hoch die Geldflüsse an jedes einzelne Krankenhaus in Deutschland zum Aufbau neuer Intensivbetten waren. Denn das Ministerium selbst scheint inzwischen Zweifel daran zu haben, ob beim Aufbau der Intensivbetten alles mit rechten Dingen zugegangen ist - oder ob es Kliniken gab, die auf diesem Weg schlicht viel Geld abgegriffen haben für Betten, die tatsächlich gar nicht neu geschaffen wurden.

Der Staatssekretär will nun "konkrete Nachweise"

Ein Brief von BMG-Staatssekretär Thomas Steffen vom 21. Juni an die Bundesländer, der NDR, WDR und Süddeutscher Zeitung vorliegt, bringt den Unmut zum Ausdruck. Darin bittet Steffen die Länder mit Frist bis 15. Juli, "von den Krankenhäusern konkrete Nachweise in Form von Rechnungen, Kostenaufstellungen und ähnliches zur Anschaffung neuer Intensivbetten anzufordern". Vor allem interessiere das Ministerium, "ob und in welchen Fällen die Beschaffung neuer Intensivbetten oder die Umwandlung bestehender Betten zu Intensivbetten von den Krankenhäusern nicht nachgewiesen werden konnten" und deshalb "ausgezahlte Förderbeträge auf Grund fehlender Nachweise zurückgefordert worden sind".

Das Thema sorgt derzeit für viel Ärger. Vor allem die Gesetzlichen Krankenkassen (GKV) drängen auf eine Prüfung der angeblich angeschafften neuen Intensivbetten, weil sie über den Gesundheitsfonds den größten Teil des Aufbaus aus ihren Mitteln bezahlen mussten. Die privaten Krankenversicherungen steuerten nichts bei. "Eine nachträgliche Beteiligung der privaten Krankenversicherung an der Finanzierung ist nicht vorgesehen", teilt ein BMG-Sprecher auf Anfrage mit. Auf einer Verwaltungsratssitzung des GKV-Spitzenverbands forderten Vertreter sogar eine strafrechtliche Aufklärung der Vorgänge.

GKV-Vizechefin Stefanie Stoff-Ahnis erklärte, dass die Bestimmungen für den Aufbau der Betten zu vage formuliert gewesen seien, wie der Verband auf Anfrage bestätigte. "Man hätte vor allem definieren müssen, was ein Intensivbett ist, damit man auch beobachten kann, ob zusätzliche Betten aufgebaut worden sind", sagt Wulf-Dietrich Leber, Leiter der Abteilung Krankenhäuser beim GKV-Spitzenverband. "Eine bundeseinheitliche Definition fehlte bislang." Diese sei erst mit dem Divi-Intensivbettenregister geschaffen worden.

Eine Auswertung der Zahlungen an die Krankenhäuser ergibt, dass die Kliniken in den einzelnen Bundesländern höchst unterschiedlich in den Fördertopf gegriffen haben. Während Bayern pro 100 000 Einwohner lediglich zwei neue Intensivbetten finanzierte, waren es in Baden-Württemberg 18, in Niedersachsen 19 und im Saarland sogar 31. Mehr als 800 Kliniken in Deutschland haben Geld zum Aufbau neuer Intensivbetten erhalten, darunter auch kleine Fachkliniken für Orthopädie, Neurologie sowie einige Reha-Kliniken.

Die meisten Zuschüsse bundesweit erhielten das Klinikum Stuttgart und das Universitätsklinikum Schleswig-Holstein (UKSH), die beide jeweils 11,7 Millionen Euro für den Aufbau von 234 Intensivbetten kassierten. Tatsächlich gab es vor der Pandemie am UKSH 172 Intensivbetten, derzeit werden 240 Betten betrieben, wie das Klinikum mitteilt. Die fehlenden 166 Betten seien als "Reserve" zu verstehen. Allerdings sei man in der Lage, die hohe Zahl "notfalls innerhalb weniger Tage zu betreiben".

209 Betten als "Puffer"

Das Klinikum Stuttgart hatte vor der Pandemie 90 Intensivbetten, Ende des vergangenen Jahres waren es 115. Die gegenüber der Fördersumme fehlenden 209 Intensivbetten seien als "Puffer" zu verstehen, "die Geräte stehen in den Notfalllagern", wie der Sprecher des Klinikums mitteilt.

Wen auch immer man unter den Top 10 der Zahlungsempfänger fragt, überall hört man, dass die neu finanzierten Intensivbetten zum allergrößten Teil nicht betriebsbereit seien, sondern als Reserve verstanden werden. Schon im Gesetz von Jens Spahn reichte das Aufstellen eines Intensivbettes, um den Zuschuss von 50 000 Euro zu bekommen. Sein Sprecher betont: "Voraussetzung für die Förderung war nicht, dass diese Betten auch in dauerhafter Betriebsbereitschaft gehalten werden." Deshalb finde man diese neuen Betten meist auch nur im Divi-Intensivregister als "Notfallreserve" oder "als Reserve außerhalb des zeitlichen Horizonts von sieben Tagen".

Eine Begründung liefert die Medizinische Hochschule Hannover gleich mit. Deren Sprecher erklärt: "Jedem war klar, dass diese Intensivbetten nicht ohne Weiteres mit Pflegepersonal ausgestattet sein würden." Wäre die Corona-Lage dramatisch schlimmer geworden, hätte man eben Pflegepersonal aus Nicht-Intensivbereichen, OP-Personal und Medizinstudierende entsprechend geschult und eingesetzt. "Uns ist bewusst, dass wir dabei nicht die Qualitätsansprüche erfüllen können, die wir unter Normalbedingungen an unser Personal stellen, aber dies wäre eine Maßnahme zur Abwehr einer Katastrophe gewesen", schreibt der Sprecher per E-Mail.

Dennoch bleibt die Frage zum Beispiel des Bundesrechnungshofs, ob es bei so mancher Klinik auch Mitnahmeeffekte bei dieser Förderung gab. Die Bundesländer, die jetzt vom BMG zur Kontrolle aufgefordert werden, dürften daran aber gar kein Interesse haben. Denn grundsätzlich ist es so, dass die Länder die Ausstattung der Kliniken in ihrem Land finanzieren müssen, die Krankenkassen wiederum finanzieren über Krankheitspauschalen (DRGs) den Betrieb. Im Jahr 2020 waren die Länder jedoch in der glücklichen Lage, dass der Bund plötzlich die gesetzlichen Krankenkassen verpflichtete, die Ausstattung mit Intensivbetten zu finanzieren. Jedes Bett, jedes Beatmungsgerät und jedes EKG, das in dieser Zeit angeschafft oder auch nur erneuert wurde, sparen sich die Bundesländer bei ihren Investitionen.

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