Corona-Restriktionen:Und sie lassen einfach auf

Corona-Restriktionen: Keine Corona-Leugner: Demonstration in Brüssel am zweiten Weihnachtstag gegen Corona-Restriktionen im Kultursektor.

Keine Corona-Leugner: Demonstration in Brüssel am zweiten Weihnachtstag gegen Corona-Restriktionen im Kultursektor.

(Foto: Johanna Geron/Reuters)

In Belgien ignorieren Theater, Kinos und Konzerthallen die staatliche Anordnung, wegen Omikron zu schließen. Und die Polizei? Sieht erst einmal zu.

Von Josef Kelnberger, Brüssel

Die Corona-Pandemie treibt so manche Regierung an den Rand der Handlungsunfähigkeit, aber so etwas wie in Belgien hat man noch nicht erlebt. Von "zivilem Ungehorsam" ist in dem Land nun allenthalben die Rede, weil sich viele Betreiber von Theatern, Kinos und Konzertbühnen unter dem Beifall ihres Publikums schlichtweg weigern, einer staatlichen Anordnung zu folgen und ihre Häuser zu schließen. Wer bei zivilem Ungehorsam an Mahatma Gandhi denkt, wird den Begriff bei diesem Thema für übertrieben halten. In gewisser Weise ist er aber sogar zu klein.

Von zivilem Ungehorsam spricht man im weitesten Sinn, wenn Menschen, die sich moralisch im Recht fühlen, staatliche Regeln verletzen und dafür eine Strafe in Kauf nehmen. Was aber ist das richtige Wort, wenn diese Menschen gar keine Strafe fürchten müssen, weil, wie nun in Belgien, Polizei und Staatsanwaltschaft keine Lust haben, die Regelverletzung zu bestrafen - ja wenn sogar führende Politiker ihr Verständnis äußern? Man kommt der Anarchie ganz nahe, ein gefährlicher Zustand für einen zerbrechlichen Staat wie Belgien.

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Alles begann am vergangenen Mittwoch, als das Corona-Koordinierungskomitee unter Regie von Premierminister Alexander De Croo seine neuen Maßnahmen zur Eindämmung der Omikron-Welle verkündete. Im Mittelpunkt: nicht die Gastronomie, sondern völlig überraschend der Kulturbetrieb. Nicht einmal das wissenschaftliche Beratungsgremium hatte eine sofortige Schließung von Kinos, Theatern, Konzerthäusern gefordert. Als der Brüsseler Epidemiologe Marius Gilbert, eine belgische Autorität in Sachen Corona, davon hörte, kämpfte er vor laufenden Kameras mit den Tränen. Er sprach von einem "totalen Vertrauensbruch" zwischen Wissenschaft und Politik, von einem politischen Kuhhandel, der den sozialen Zusammenhalt gefährde.

Allein der Regierung De Croo gehören sieben Parteien an, im Koordinierungskomitee gilt es zudem, die mächtigen Stimmen von Regionen und Sprachgemeinschaften zu berücksichtigen. Bei dem Gefeilsche um die Reduzierung von Kontakten in Innenräumen setzte sich offenbar die Meinung durch: Bei der Kultur ist am wenigsten Widerstand zu erwarten. Denkste.

Sind Bier und Pommes wichtiger als Kultur?

Am zweiten Weihnachtstag protestierten in Brüssel an die 15 000 Kulturschaffende samt Unterstützern. Da waren keine Corona-Leugner versammelt, sondern Menschen, die viel Geld in Lüftungsanlagen und Sicherheitskonzepte investiert haben, die nun um ihre Existenz fürchten - und ganz generell darunter leiden, dass dem Staat Bier und Pommes offenbar wichtiger sind als die Kultur.

Während der Demo öffneten Kinos ihre Türen für gut besuchte Vorstellungen, die eigentlich nicht stattfinden hätten dürfen. Betreiber von Jazzklubs und Theaterhäusern kündigen an, sie würden die Verbote ignorieren. Bürgermeister erklären, sie dächten nicht daran, die lokale Polizei für Kontrollen loszuschicken. Ein hochrangiger Vertreter der Staatsanwaltschaft sagte, seine Behörde habe Besseres zu tun, als solche Verstöße zu verfolgen. Bénédicte Linard, grüne Kulturministerin der französischen Sprachgemeinschaft, beharrt darauf: Es sei nicht ihre Aufgabe, die Kulturschaffenden zur Einhaltung der Regeln zu ermahnen. Keinesfalls werde sie Veranstaltern, die sich nicht an die Verbote halten, Subventionen streichen.

Noch nie in der belgischen Geschichte sei ein Regierungsbeschluss derart infrage gestellt werden, schreibt die Tageszeitung Le Soir. Auch andere Blätter beklagen eine beispiellose Erosion staatlicher Autorität. Die nationale Regierung und die Regionen wollen nun sicherstellen, dass die Anordnungen befolgt werden, zugleich suchen sie an diesem Dienstag das Gespräch mit einer Delegation von Kulturveranstaltern. Diese wiederum drohen mit einer Klage vor dem obersten belgischen Gericht. Ein neuer Akt auf der Bühne der Anarchie.

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