Fünf Jahre nach dem Ausbruch der Corona-Pandemie wird in Deutschland über eine gründliche Aufarbeitung diskutiert. Das Parlamentarische Kontrollgremium des Deutschen Bundestags (PKGr), das für die Kontrolle der deutschen Nachrichtendienste zuständig ist, hat die Bundesregierung dabei zu mehr Transparenz aufgefordert. „Die Bundesregierung hätte das Gremium früher unterrichten müssen, welche konkreten Arbeitsthesen bezüglich des Ursprungs der Corona-Pandemie der Bundesnachrichtendienst prüft und aufklärt“, heißt es in einer Pressemitteilung. Das Gremium äußert sich nur selten öffentlich. Dass die Geheimdienstkontrolleure sich der Regierung gegenüber so kritisch äußern, gilt als klare Rüge der Parlamentarier.
Nach Recherchen von Süddeutscher Zeitung und Zeit kam der BND bereits im Jahr 2020 zu der Erkenntnis, dass das Coronavirus durch einen Laborunfall im chinesischen Wuhan in Umlauf gekommen ist. Das Kanzleramt entschied demnach allerdings, die brisante Einschätzung unter Verschluss zu halten. Das PKGr war offenkundig nicht eingeweiht. Der BND bewertete die Laborthese mit einer Wahrscheinlichkeit von 80 bis 95 Prozent.
Altkanzlerin Angela Merkel (CDU) wies den Vorwurf, Geheimdiensterkenntnisse vertuscht zu haben, über eine Sprecherin gegenüber dem Tagesspiegel vehement zurück und verwies an das Kanzleramt. Dort hat man zu den Vorgängen bislang nicht Stellung genommen. Auch der noch amtierende Kanzler Olaf Scholz wurde den Recherchen von SZ und Zeit zufolge vom BND über die Laborthese informiert.
Christian Drosten möchte kein Urteil zu den BND-Erkenntnissen abgeben
Inzwischen prüfen externe Experten – darunter der Präsident des Robert-Koch-Institutes (RKI), Lars Schaade, und der Berliner Virologe Christian Drosten – die Geheimdiensterkenntnisse im Auftrag der Bundesregierung. Drosten erklärte, ihn hätten die Erkenntnisse des BND zwar beeindruckt, jedoch seien den Wissenschaftlern die Quelldaten nicht zugänglich gemacht worden. „Ich kann daher schon allein mangels Datenzugang kein wissenschaftliches Urteil abgeben“, sagte Drosten. Er verwies zudem auf eine Geheimhaltungsverpflichtung des Gremiums. Auch Lothar Wieler, der frühere Chef des RKI, hat zur Frage Stellung genommen, was die Pandemie ausgelöst habe. Er sagte der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, er halte die Laborthese „mit dem aktuellen Wissensstand für wahrscheinlicher“.
Das Parlamentarische Kontrollgremium äußerte die Erwartung, „dass die Bundesregierung spätestens nach dem bevorstehenden Abschluss der Untersuchungen die Öffentlichkeit entsprechend unterrichtet“. Das Aufklärungsinteresse und die Untersuchung an sich begrüße das Gremium ausdrücklich.
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat unterdessen zu einer eingehenden Aufarbeitung der Corona-Jahre aufgerufen. Bei einer Diskussion in Schloss Bellevue sagte er: „Ich halte es für unabdingbar, Transparenz herzustellen und damit möglichst viele Menschen zurückzugewinnen, die in der Zeit der Pandemie an der Demokratie gezweifelt haben und ihr jetzt vielleicht gar nicht mehr vertrauen.“
Wird die Zeit nicht aufgearbeitet, spielt das Populisten in die Hände, warnt Steinmeier
Steinmeier äußerte die Hoffnung, dass der neue Bundestag und die neue Bundesregierung die „riesige Chance“ erkennen würden, die eine Aufarbeitung darstelle. „Wenn wir nicht aufarbeiten, bleibt zu viel, was verdrängt wurde. Und das, was wir nicht offen ansprechen, nährt neue Verschwörungstheorien und neues Misstrauen“, so der Bundespräsident. Eine unterlassene Beschäftigung mit der Frage, welche Maßnahmen sinnvoll waren, spiele nur den Populisten in die Hände und sei Gift für die Demokratie.
Der Bundespräsident sprach die Diskussion über eine Impfpflicht an, die flächendeckenden Schulschließungen sowie die Einschränkung von Grundrechten wie der Versammlungsfreiheit. „Begegnungen zu verhindern, das ist aber eine riesige Belastung für eine Demokratie“, sagte Steinmeier.
Er zeigte sich zwar überzeugt, dass vieles in Deutschland richtig gelaufen und das Land besser als andere durch die Pandemie gekommen sei. Doch habe diese ohne Zweifel zu „Versehrungen“ geführt. Über die gelte es zu sprechen, „um in einer ähnlichen Krisensituation in Zukunft noch resilienter und stärker zu sein“. Offiziellen Zahlen zufolge hat das Coronavirus allein in Deutschland in den Jahren 2020 bis 2022 180 000 Tote gefordert.