Contra SPD-Mitgliederentscheid:Nie wieder, hoffentlich

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464 000 Genossen waren zur Abstimmung über den Koalitionsvertrag aufgerufen. (Foto: dpa)

Contra: Die SPD-Parteispitze hat die falschen Schlüsse aus dem Ideal der innerparteilichen Demokratie gezogen. Die Union macht es allerdings kaum besser.

Kommentar von Detlef Esslinger

Solch einen Mitgliederentscheid gibt es hoffentlich kein weiteres Mal, das sollte die Lehre aus dem Spektakel sein. 464 000 Genossen wollen verfügen, was mit den 9,5 Millionen Stimmen zu machen ist, die ihre Partei im September erhalten hat. Damals gab es Wähler, nun gibt es Oberwähler. Die SPD legt das Grundgesetz still.

Das Motiv der Partei ist ja ehrenhaft. Es soll endlich die Zeit vorbei sein, in der ein paar Chefs die wichtigen Dinge bestimmen und alle anderen zu folgen haben; ganz gleich, was sie von einer Entscheidung halten. All die Parteitage, Regionalkonferenzen und sonstigen Versammlungen mögen auch gut für die innerparteiliche Demokratie gewesen sein, zumal es in der SPD arg gärt und rumpelt. Niemandem wäre gedient, wenn Zehntausende Mitglieder erbittert zum Schluss kämen, es interessiere ihre Führung nicht, was sie denken.

Doch die Konsequenz, die die SPD aus diesen Überlegungen gezogen hat, war falsch. Ihre Mitglieder sollen gerne alle darüber entscheiden, wem sie jeweils den Vorsitz ihrer Partei zumuten möchten. Sie sollen auch gerne über jedes Programm abstimmen, mit dem sie anschließend vor die Wähler treten. Nach einer Wahl aber sind nicht mehr Parteimitglieder die Entscheider - das sind die gewählten Abgeordneten. Dies ist das Wesen der repräsentativen Demokratie. In ihr sollen nicht Stimmungen und das vage Gefühl der Masse bei jeder komplexen Frage den Ausschlag geben; es haben hauptberufliche Volksvertreter, ausgestattet mit einem Mandat auf Zeit, ein Urteil zu finden. Das Grundgesetz sieht vor, dass die Abgeordneten, die den Kanzler oder die Kanzlerin wählen, "an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen" sind.

Sie sind es, die - in geheimer Abstimmung im Parlament - zu entscheiden haben, ob sie koalieren, opponieren oder eine Minderheitsregierung tolerieren wollen. Das unterscheidet dieses Land von Rätesystemen, Volksrepubliken und anderen Pseudo-Demokratien, in denen Abgeordnete immer den Imperativen Dritter folgen müssen. Wenn nun die Mitglieder der SPD bestimmen wollen, ob die Abgeordneten ihrer Partei für oder gegen Merkel votieren, versuchen sie genau das, was das Grundgesetz explizit verhindern will: Abgeordnete an Aufträge und Weisungen zu binden.

Die Union macht es übrigens kaum besser. Indem die CDU die Delegierten eines Parteitags und die CSU ihren Vorstand entscheiden ließ, maßt sich etwa der OB von Augsburg (einer der stellvertretenden CSU-Vorsitzenden) die Entscheidung an, ob der Abgeordnete von Augsburg einer Koalition zustimmt oder nicht. Die Union bot nur kein Drama; deshalb redet niemand darüber, dass auch sie ein Verfahren wählte, welches das Grundgesetz ignoriert.

Die Frage ist nicht allein, mit welcher Legitimation all die Oberwähler agieren. Die Frage ist vor allem, ob eigentlich jedermann bewusst ist, was da passiert: die beiläufige Einführung des imperativen Mandats, die Verlagerung grundlegender Entscheidungen weg aus dem Parlament. Soll das die Konsequenz aus unklaren Mehrheiten sein, aus AfD und Angst vor der Basis: dass man einen Grundgesetz-Artikel, ja ein Verfassungsprinzip, für Formalkram hält und stilllegt, einfach so?

© SZ vom 03.03.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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