Das Strafrecht hatte nie sonderlich viel für die Armen übrig, aber ein Quäntchen Milde enthielt es dann doch. Der "Mundraub", juristisch korrekt "Verbrauchsmittelentwendung", überdauerte bis in die 1970er-Jahre im Strafgesetzbuch. Wer aus persönlicher Not Lebensmittel stahl, um sie aufzuessen, konnte mit mehr Nachsicht rechnen als der normale Dieb. Das war der letzte Ausläufer einer biblischen Mildtätigkeit. Aber seit es nicht mehr um Früchte vom Weinberg des Nachbarn geht, sondern um die Hähnchenkeulen vom Kühlregal, passt das nicht mehr so recht in die Zeit.
Das Containern ist der Mundraub des 21. Jahrhunderts. Zwar ist es zumeist nicht der akute Hunger, der Menschen dazu treibt, sich aus den mit essbaren Lebensmitteln gefüllten Abfallbehältern der Supermärkte zu bedienen. Aber der Griff in den Container zeigt einen Missstand auf, der den Zeiten des Mundraubs nicht so unähnlich ist. Auf der einen Seite hat sich eine Verschwendungsgesellschaft eingerichtet, die ihre Abfallhalden nicht nur mit rasch überholter Unterhaltungselektronik oder Markenkleidung füllt, sondern auch mit essbarer Nahrung. Man wirft Dinge weg, die nicht von ungefähr "Lebens-Mittel" heißen; das ist, wie so vieles, gänzlich neu in der Menschheitsgeschichte. Auf der anderen Seite werden die Tafeln immer länger, an denen sich Menschen versammeln, weil Hartz-IV zu knapp kalkuliert ist.
Staatsanwälte sollten Verfahren wegen Containerns einstellen
Der Essensklau aus dem Container ist ein legitimes Mittel, um Staat und Gesellschaft auf diesen organisierten Widersinn aufmerksam zu machen. In dieser Form des Diebstahls steckt eine fundamentale Grundsatzkritik, weil er die Absurdität auf die Spitze treibt: Bestraft wird nicht, wer umweltschädigend Lebensmittel entsorgt, sondern wer sie wieder aus den Containern hervorholt. Der soziale Gedanke, der einst in der Milde für "Mundräuber" steckte, wird auf den Kopf gestellt. Klar, Eigentum ist Eigentum, formal kommt man kaum daran vorbei, dass es sich um Diebstahl handelt. Aber Staatsanwälte haben die Möglichkeit, solche Verfahren einzustellen - und die müssen sie nutzen. Es gibt hier nichts, was man mit dem scharfen Schwert des Strafrechts verteidigen müsste.
Eine Lösung bietet das Containern trotzdem nicht. Gewiss, man könnte das Strafrecht liberalisieren - aber will man den Menschen allen Ernstes den Weg weisen, Essen unter unhygienischen Bedingungen aus dem Müll zu fischen? Nein, es müssen andere Mittel her. Und dabei könnte das Recht durchaus seinen Part haben. Bundesernährungsministerin Julia Klöckner hat im Frühjahr eine "Nationale Strategie" ins Leben gerufen, um der Verschwendung Einhalt zu gebieten. Das klingt bombastischer, als es ist, aber es ist auch nicht ganz verkehrt: Bewusstsein wecken, Strukturen schaffen, politischen Druck auf Handel und Lebensmittelindustrie aufbauen. Ob das am Ende reicht, wird man sehen.
Länder wie Frankreich und Tschechien setzen auf harte Verpflichtungen. Weil Unternehmen zwar auf ihren guten Ruf, noch mehr aber auf ihre Gewinnmargen achten, sollte man sich die Strategien der Nachbarn genau anschauen. Raum für persönliche Initiativen bleibt da übrigens genug, auch ohne Containern. Mehr als die Hälfte der entsorgten Lebensmittel wurde in Privathaushalten weggeworfen.