Süddeutsche Zeitung

Bundesverfassungsgericht:Containern, ein gut gemeinter Diebstahl

  • Zwei Studentinnen kämpfen dafür, dass das "Containern" legal wird und legen Verfassungsbeschwerde ein.
  • Das aber dürfte schwierig werden. Denn das Strafgesetzbuch macht keinen Unterschied zwischen wertvoller und wertloser Beute; Eigentum ist Eigentum.
  • Die Politik könnte Regeln erlassen, damit unverkaufte Lebensmittel an karitative Organisationen weitergegeben werden müssen.

Von Wolfgang Janisch, Karlsruhe

Es kann einen schon der heilige Zorn packen oder auch der sozialistische. Da wirft ein Supermarkt haufenweise essbare Lebensmittel in den Müllcontainer, ein paar junge Leute klauben sie wieder raus - und werden prompt wegen Diebstahls verurteilt. So erging es zwei Studentinnen aus dem bayerischen Olching, ihr Griff in den Container eines Edeka-Supermarkts trug ihnen einen Prozess über zwei Instanzen ein, bis zum Bayerischen Obersten Landesgericht.

Zwar ist die Sache glimpflich ausgegangen, mit einer Geldstrafe unter Vorbehalt plus acht Arbeitsstunden bei einer Tafel. Aber es bleibt eine Strafe, und ob die hier wirklich nötig war, wollen die Studentinnen - unterstützt von der Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF) - nun beim Bundesverfassungsgericht klären lassen: An diesem Freitag legen sie ihre Verfassungsbeschwerde ein.

Das sogenannte Containern hat es längst in den Wortschatz geschafft, und es wirft ein beschämendes Licht auf die Wohlstandsgesellschaft. Jedes Jahr landet ein ganzer Berg von Lebensmitteln auf dem Müll; die Bundesregierung spricht von zwölf Millionen Tonnen, die Umweltschutzorganisation WWF gar von 18 Millionen. Zu viel jedenfalls, darüber sind sich alle einig. Müsste das Strafrecht da nicht ein Auge zudrücken, wenn Menschen diesem Missstand wenigstens ein klein wenig abhelfen wollen?

Im April hat die Linksfraktion im Bundestag einen Vorstoß zur Entkriminalisierung unternommen, im Juni versuchte der hamburgische Justizsenator Till Steffen (Grüne) in der Justizministerkonferenz sein Glück - ohne Erfolg. Für die Legalisierung des Containerns finden sich vorerst keine politischen Mehrheiten.

Bagatellfälle können eingestellt werden

Eigentlich kennt das Gesetz längst einen Ausweg, um Bagatellfälle nicht vor den Richter bringen zu müssen: die Einstellung des Verfahrens wegen Geringfügigkeit. Im Allgemeinen ist das ein ganz gutes Korrektiv, weil Staatsanwälte und Gerichte ja selbst wenig Interesse daran haben, den Betrieb mit Kleinkram aufzuhalten. Eine wirkliche Lösung für einen straffreien Essensklau liegt darin trotzdem nicht.

Im konkreten Fall hat die Staatsanwaltschaft München II die Olchinger Anklage stur bis zum Ende durchgezogen und eine Einstellung ablehnt. Und ganz generell dürfte das Containern oft auf Wiederholung angelegt sein. Beim vierten, sechsten, achten Mal - man kennt das vom Schwarzfahren - wird irgendein ordnungswütiger Staatsanwalt die Essensdiebe dann doch anklagen. Das Bundesverfassungsgericht könnte zwar verfügen, dass Container-Diebstähle im Bagatellbereich in aller Regel nicht verfolgt werden dürfen, schlagen die GFF-Juristen vor - ähnlich wie man das einst beim Besitz geringer Cannabismengen gemacht hat. Sehr wahrscheinlich ist es aber nicht, dass es dazu kommt.

Eine gute Tat gegen Ressourcenverschwendung?

Die große Frage, die in der mit 33 Seiten eher knappen Verfassungsbeschwerde aus der Feder der Rechtsanwältin Susanne Keller aus Stadtbergen aufgeworfen wird, lautet daher: Lässt sich der Diebstahlsparagraf 242 nicht auch so interpretieren, dass der harmlose Griff in den Container von vornherein straflos bleibt? Weil das Zeug doch eh nichts mehr wert ist? Oder weil darin sogar eine gute Tat liegt, nämlich ein kleiner Beitrag gegen die Ressourcenverschwendung?

Die Antwort ist komplizierter, als man das im spontanen Mitgefühl glauben möchte. Denn das Strafgesetzbuch macht nun mal keinen Unterschied zwischen wertvoller und wertloser Beute; Eigentum ist Eigentum. "Die Wertlosigkeit einer Sache als solche gewährt Dritten nicht das Recht zu Wegnahme", schrieb bereits 1911 das Reichsgericht, und dabei ist es geblieben.

Wobei man schon darüber nachdenken kann, ob der Supermarkt überhaupt noch Eigentümer am Essensabfall sein wollte. Wer seinen Hausmüll vor die Tür stellt, der will ihn loswerden und gibt damit sein Eigentum auf - so jedenfalls sehen es mehrere juristische Kommentatoren. Man nennt das "Dereliktion". Wer dagegen sein Altpapier zum Abholungstermin bereitstellt, der will es einem bestimmten Empfänger überlassen, der Turnjugend oder der Kirchengemeinde zum Beispiel. Nimmt jemand unbefugt die Kartonstapel mit, begeht er Diebstahl, so hat es das Bayerische Oberste Landesgericht 1986 entschieden.

Supermarkt könnte Container zur Selbstbedienung hinstellen

Für die entsorgungsbereiten Lebensmittel lässt sich daraus folgern: Würde der Container ostentativ als eine Art Angebot zur Selbstbedienung hingestellt, dann hätte das Unternehmen sein Eigentum aufgegeben. Der Olchinger Edeka-Container stand freilich in der Ladezone des Supermarkts - und war verschlossen. Die Studentinnen mussten einen Vierkantschlüssel ansetzen, um an die Ware zu kommen. Übrigens nachts um 23 Uhr, so richtig legal fanden sie das wohl selbst nicht. Das sieht nicht unbedingt danach aus, dass der Supermarkt den Containerinhalt freigeben wollte. Vielleicht auch deshalb, weil er weggeworfene Lebensmittel eben nicht kostenlos in Umlauf bringen, sondern der Entsorgungsfirma überlassen wollte - damit die Kunden weiterhin frische Ware im Laden kaufen. Moralisch wäre das verwerflich, aber sein Eigentum darf man bekanntlich auch für weniger edle Zwecke nutzen.

Es dürfte also schwierig werden, das Containern mit juristischer Auslegungskunst zu legalisieren. Die Klägerinnen pochen indes auf Sinn und Zweck der Paragrafen. Das Strafrecht sei "Ultima Ratio", also das letzte Mittel, um ein Rechtsgut zu schützen. "Das Containern hat im Strafrecht nichts verloren", sagt die GFF-Juristin Sarah Lincoln. "Das Strafrecht ist da, um sozialschädliches Verhalten zu bestrafen. Das Containern ist das Gegenteil von sozialschädlich: Es liegt sogar im öffentlichen Interesse, dass genießbare Lebensmittel weiterverwertet werden." Der Diebstahl ist keiner, wenn er sozial nützlich ist? Dass das Bundesverfassungsgericht auf diese Robin-Hood-Theorie einsteigt, ist kaum zu vermuten; man darf ja auch nicht dubiose Banken ausrauben, wenn man das Geld hinterher an die Armen verteilt.

Deshalb wird man die Lösung vermutlich außerhalb des Strafgesetzbuchs suchen müssen, und zwar in Berlin, nicht in Karlsruhe. Der Gesetzgeber könnte Regeln erlassen, damit unverkaufte Lebensmittel an karitative Organisationen weitergegeben werden, wie dies in Frankreich und Tschechien der Fall ist. Oder Vorkehrungen dafür treffen, dass die Müllmenge gering bleibt, wie das gerade auf einer Konferenz in Berlin diskutiert wurde. Oder man könnte einfach mal mit den Supermarktbetreibern reden; viele liefern bereits freiwillig Lebensmittel an Tafeln.

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SZ vom 08.11.2019/aner
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