Chile:Colonia Dignidad - Grauen hinter der Folklore-Fassade

CHILDREN OF COLONY DIGNITY DURING NIGHT VIGIL

Im Dienst des Sektenführers: 1997 ließ die Colonia Dignidad Kinder antreten, um den wegen Missbrauchs angeklagten Paul Schäfer zu verteidigen.

(Foto: Reuters)

In der Sekten-Siedlung in Chile wurden systematisch Menschen misshandelt und ausgebeutet. Schriftstücke belegen: Deutsche Behörden wussten viel über die Verbrechen - und taten wenig.

Von Peter Burghardt, Berlin

Man öffnet einen Ordner mit der Aufschrift "Offengelegte Verschlusssachen 1987- 93, Colonia Dignidad" und ist gleich mitten drin in diesem deutsch-chilenischen Krimi. "Drahterlass" steht auf rosafarbenen Blättern, so hießen verschlüsselte Depeschen des Auswärtigen Amtes an Vertretungen wie die in Santiago de Chile. Daneben ist der kürzlich gestrichene Hinweis GEHEIM zu sehen.

In dem Protokoll schildert ein Bonner Diplomat Ende 1986 sein Gespräch mit einem vormaligen Mitglied des Horrorlagers, der wenige Jahre zuvor geflüchtet war. Der Zeuge frage sich, ob er "durch eine Veröffentlichung" dazu beitragen solle, "das in der Colonia vielfältig geschehene Unrecht aufzudecken, da das offenbar auf dem bisherigen Wege nicht möglich sei."

Er erinnert an den sexuellen Missbrauch Minderjähriger durch den Päderasten und Sektenführer Paul Schäfer, dem die Botschaft "interessanterweise" den Reisepass verlängert habe. Er berichtet, dass Chiles Diktator Augusto Pinochet und Polizeichef Rodolfo Stange erneut "mit allen Ehren und allem Glanz" in dieser Kolonie Würde empfangen worden seien; die habe bei den Besuchern "wieder den besten Eindruck hinterlassen". Er weiß, dass 1984 "ein US-Staatsbürger" (wohl der bis heute vermisste Mathematiker Boris Weisfeiler) verschollen sei, weshalb sich auch "ein US-Dienst" für die Siedlung interessiere.

Colonia Dignidad

1961 lockte der Laienprediger und gesuchte Kinderschänder Paul Schäfer seine Gemeinde aus Siegburg nach Chile und gründete die sogenannte Colonia Dignidad, die Kolonie Würde. Die streng abgeschottete Enklave am Fuße der Anden wurde auf 30 000 Hektar zu einem Hort des Terrors. Mord, Folter, Entführung, Vergewaltigung, Sklavenarbeit, Zwangsadoption, Psychopharmaka, Waffenhandel, zerrissene Familien und pseudoreligiöser Drill. Das Grauen geschah hinter einer Fassade von Folklore, Wohltätigkeit, Gottesfurcht und Tüchtigkeit, mit Lederhosen, Liedgut und Landwirtschaft.

Er spricht von einem "beachtlichen Waffenlager" in der Colonia Dignidad und von illegal beschafften Medikamenten. Außerdem gebe es dort "ein großes, unterirdisches Parkhaus mit einer Reihe chilenischer Fahrzeuge von Personen, die im Laufe der Jahre verschwunden" seien.

Bewohner der Colonia wiederum seien "mit Hubschraubern von Regierungsseite abgeholt und zurück gebracht worden, um unterirdische Anlagen in der neuen Residenz des Präsidenten herrichten zu helfen" - sie hätten "große Erfahrung" damit, die Colonia sei von solchen versteckten Einrichtungen "ganz durchzogen". Sie würden, so heißt es weiter, über all das aber nichts sagen oder davon nichts wissen und hätten auch vor deutschen Konsularbeamten "keine wirkliche Sprechmöglichkeit".

Der Beamte schließt aus dem Zeugnis des Aussteigers, "der seelische Druck" sei "groß". Denn dessen Frau und Kinder leben da noch in der Colonia Dignidad. Auch aus anderen Gründen ahnt der Amtsträger, "dass diese Angelegenheit hier weiter bestimmte Kreise stark beschäftigt". Er ist besorgt: "Wir müssen aus diesem Grunde versuchen, alle Wege zu gehen, damit Vergehen gegen deutsche Staatsangehörige geahndet werden, um uns nicht der Unterlassung zeihen lassen zu müssen."

Fast 30 Jahre sind seither vergangen, seit kurzem sind solche Auszüge auch einem hochoffiziellen Archiv zu entnehmen. Man braucht dafür einen Termin im Lesesaal des Auswärtigen Amtes in Berlin und muss unter anderem versichern, personenbezogene Daten zu anonymisieren. Man darf nicht kopieren und nicht fotografieren und sitzt in der Regel alleine an einem großen, reservierten Tisch, stets im Blick eines Mannes oder einer Frau, die bestellte Bände über die Theke reichen.

Solche Hürden und die Menge an Material machen die Arbeit gelinde gesagt schwierig; mehr Transparenz hätten sich auch Colonia-Experten wie der Menschenrechtler Jan Stehle anders vorgestellt. Zumindest fällt ein wenig mehr amtliches Licht in einen der finstersten Skandale der Nachkriegszeit.

Akten vorzeitig freigegeben

Vor einem Monat hatte Außenminister Frank-Walter Steinmeier im Rahmen einer Zeremonie verkündet, Akten zur Colonia Dignidad bis 1996 zehn Jahre früher zu öffnen als gesetzlich vorgeschrieben. Er tat das, weil der Kinofilm "Colonia Dignidad" des Regisseurs Florian Gallenberger die verschlafene Aufmerksamkeit geweckt hatte. Und Steinmeier verband seinen Vorstoß mit einer Beichte: Das Auswärtige Amt und manche Gesandten hätten in dieser Sache keine sehr ruhmreiche Vergangenheit und wollten daraus lernen.

Das Sammelsurium nun sichtbarer Schriftstücke bestätigt das schlechte Gewissen und liefert auch sonst allerlei Bekanntes. Deutschland und Chile wussten seit Jahrzehnten viel über diese gigantischen Verbrechen und taten wenig, manche Politiker und vor allem Militärs standen Spalier. Die Justiz kam ähnlich träge voran.

Der Psychopath und Bandenchef Schäfer, genannt "Pius" und "Daueronkel", wurde nach zehn Jahren Flucht erst 2005 in Argentinien erwischt - 2010 starb der Guru mit dem Glasauge in einem Gefängnis in Santiago den Chile. Dort sitzen noch ein paar seiner engsten Mitstreiter von einst, andere Täter laufen frei herum. Viele von ihnen flohen nach Deutschland wie in einen sicheren Hafen.

Der frühere Sektenarzt Hartmut Hopp setzte sich 2011 nach Krefeld ab, in Chile wurde er zu fünf Jahren Haft verurteilt. Interpol würde ihn und andere weltweit festsetzen, nur nicht in der alten Heimat. Die Bundesrepublik liefert keine Landsleute in Länder jenseits der EU aus. Die Krefelder Staatsanwaltschaft verspricht seit Monaten, stattdessen den chilenischen Antrag auf deutsche Strafvollstreckung beim Landgericht einzureichen. In Kürze soll es laut Staatsanwalt Axel Stahl so weit sein.

Deutsche Ermittlungen gegen Hopp sind seit drei Jahrzehnten ergebnislos und viele Taten verjährt. Dabei wurde der pistolentragende Doktor mittlerweile auch des Mordes angezeigt und wird immer wieder als Nummer zwei und Außenbeauftragter der Colonia Dignidad ausgewiesen. Dafür braucht man nicht mal Unterlagen des Auswärtigen Amtes.

Als ein unerwünschter deutscher Botschafter im Helikopter auf ihrem Gelände einschwebte, blockierten die Siedler erst den Landeplatz. Dann soll Hopp einem mitgereisten chilenischen General gedroht haben, er werde ihn wegen Hausfriedensbruchs absetzen lassen.

Der eloquente Klinikchef galt als Vertrauter des Ehepaars Pinochet und ihres Geheimdienstchefs Manuel Contreras. Die Sektierer aus Alemania wurden zu einer Bastion der chilenischen Diktatur, ihr vermeintliches Mustergut geriet zum versteckten Folter-Camp. Schäfer kontrollierte alles und jeden, viele Beweise sind unter Verschluss.

Der Staat im Staate war ein Stützpunkt Chiles für einen eventuellen Krieg mit Argentinien und Peru. Die Colonia besaß Sendeanlagen, Flugpisten und Arsenale, Fahnder gruben 3,5 Tonnen Kriegswaffen inklusive Raketenwerfer aus. Ein früherer Geheimdienstler erwähnte Transporte von Laborgütern auch über Frankfurts Flughafen und Verbindungen zu einem mutmaßlichen CIA-Agenten und Auftragskiller, der mittlerweile im US-Zeugenschutzprogramm untergekommen ist.

Entscheidene Fragen noch offen

Der in Chile verurteilte Colonia-Scherge Gerhard Mücke räumte 2005 vor Gericht ein, 18 bis 21 Leichen Oppositioneller aus Massengräbern verbrannt zu haben, um Spuren zu beseitigen. 1977 war von 112 politischen Gefangenen in der Kolonie die Rede gewesen, die meisten sterblichen Reste wurden nie gefunden.

Die Colonia baute Maschinengewehre, in ihrer Giftküche wurde offenbar das Nervengift Sarin hergestellt. Via Miami landeten 100 000 Handgranaten bei der Colonia, das verriet ein chilenischer Ermittler 2006 dem Bundeskriminalamt. Zu den deutschen Verbündeten zählten der Waffenhändler Gerhard Mertins und Chargen der CSU.

Entscheidende Fragen bleiben unbeantwortet. Wer sind die unbekannten Toten, wer die Mörder? Was geschah mit Boris Weisfeiler? Welche Deals steckten hinter dem Waffenschmuggel? Wo ist das Geld, das die Colonia-Führung mit Waffen, Zwangsarbeit und unterschlagenen Renten verdient haben muss?

"Es gibt Konten auf Inseln der Karibik", erklärte Dr. Hopp 2005 einem chilenischen Richter. Er flog nach St. Kitts und sprach auch von anderen Besitzungen. Details? Die Opfer von Quälerei, Gehirnwäsche und Ausbeutung warten derweil auf Entschädigung, wobei Opfer und Täter in manchen Fällen schwer zu unterscheiden sind.

Auch nach Durchsicht einiger freigegebener Dokumente ist unfassbar, wie dieses System trotz aller Bekenntnisse, Fernschreiben, Bücher und Reportagen so lange bestehen konnte. Noch Jahre nach dem Ende des chilenischen Regimes ging es weiter, ganz vorbei ist die Geschichte noch immer nicht.

Längst trägt die Colonia Dignidad den harmlosen Namen Villa Baviera, Bayerisches Dorf. Ungefähr 100 Verbliebene führen die Agrarbetriebe weiter und betreiben das Areal des Schreckens auch als abstrusen Freizeitpark mit Hotel, Restaurant, Hochzeiten und Oktoberfest. Das Auswärtige Amt unterstützte den Irrsinn jahrelang mit mehr als einer Million Euro, jetzt soll auf juristischen Druck immerhin die überfällige Gedenkstätte entstehen.

Die neuen Anführer sind Söhne und Töchter der alten Anführer, ihre Nachnamen lauten Schreiber oder Schnellenkamp. Im Lesesaal des Außenministeriums trifft man derzeit häufig auf Anna Schnellenkamp, sie ist eine Betreiberin des touristischen Selbstversuchs. Ihre Familie illustriert die Zerrissenheit.

Ihr Vater Kurt war einer der schlimmsten Schergen Schäfers und belegt eine Zelle in Santiago. Einer ihrer Brüder zählt zu den aktuellen Wortführern. Ein anderer Bruder hat sich abgewendet, seine Biografie geschrieben und seine Identität geändert. Anna Schnellenkamp, die in der Colonia Dignidad aufwachsen musste, studiert im Berliner Archiv ihre gruselige Vergangenheit und die Unterlassungen von Politik und Diplomatie.

Außenminister Hans-Dietrich Genscher soll wegen der Colonia getobt haben und versprach persönlichen Einsatz. Doch ein Staatssekretär erläuterte, die Botschaft habe "nach persönlichen Gesprächen mit den Betroffenen in keinem Fall feststellen können, dass deutsche Staatsangehörige gegen ihren Willen in der CD festgehalten werden".

Ein ehemaliger Botschafter schien sich besonders wohl zu fühlen bei den Deutschen in Chiles Bergen. Bei einer Visite 1977 sang ihm der Kinderchor Volkslieder, und der selige Gast kam sich vor wie bei Schneewittchen.

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