Cicero-Urteil:Restaurierung eines Grundrechts

Die Pressefreiheit hat neue Kraft erhalten. Das Urteil des Verfassungsgerichts ist ein Beitrag zum Funktionieren der Demokratie; denn eine Demokratie, in der Skandale unter den Teppich gekehrt werden können, ist keine gute Demokratie.

Heribert Prantl

Zu viel Weihrauch, so sagt das Sprichwort, rußt den Heiligen. Was für einen Heiligen gilt, kann auch für ein Grundrecht gelten: In den Weihrauchschwaden ritualisierter Lobpreisungen erkennt man es kaum mehr, es verliert sein Gesicht.

So ist es der Pressefreiheit in den vergangenen zwanzig Jahren ergangen; jeder hat das Grundrecht nach Artikel 5 gepriesen, kaum einer hat es mehr ernst genommen.

Nicht selten war es so: Am Sonntag wurde vom Wert der Pressefreiheit für die Demokratie geschwelgt, und schon am Montag galt sie nichts mehr - dann wurde eine Redaktion wegen des "Verdachts der Beihilfe zur Verletzung von Dienstgeheimnissen" durchsucht. Aus der Pressefreiheit wurde ein Sonntagsreden-Grundrecht, ein Artikel ohne praktischen Wert.

Sicherlich: Deutschland ist nicht China, und kein Journalist seit Rudolf Augstein wurde mehr wegen Landes- oder Geheimnisverrat eingesperrt. Strafverfahren gegen Journalisten wegen "Beihilfe zum Geheimnisverrat" wurden aber in den vergangenen Jahren von den Staatsanwaltschaften auch dann eingeleitet, wenn diese wussten, dass eine Verurteilung kaum möglich sein wird.

Die Strafverfahren wurden vor allem deswegen eingeleitet, um Redaktions- und Privaträume von Journalisten durchsuchen und Materialien beschlagnahmen zu können - der Staat wollte herausfinden, wer die Presse informiert hat.

Das Bundesverfassungsgericht hat das nun erkannt und verboten: Diese Durchsuchungen haben nämlich einschüchternde Wirkung auf Journalisten wie Informanten, sie zerstören die Vertraulichkeit zwischen Medien und ihren Informationsquellen.

Wörtlich wiederholen daher die Verfassungsrichter die Sätze aus dem Spiegel-Urteil von 1966: Der Schutz des Vertrauensverhältnisses zwischen Presse und Informanten "ist unentbehrlich, da die Presse auf private Mitteilungen nicht verzichten kann, diese Informationsquelle aber nur dann ergiebig fließt, wenn sich der Informant grundsätzlich auf die Wahrung des Redaktionsgeheimnisses verlassen kann".

Das Cicero-Urteil des Bundesverfassungsgerichts ist keine verspätete Dreikönigs-Räucherei der Richterkönige von Karlsruhe. Sie schwenken nicht das Weihrauchfass vor dem Grundrecht der Pressefreiheit, um dann (wie oft geschehen, vor allem bei den Entscheidungen zur Übewachung der Handys und Telefone von Journalisten) zu sagen, im konkret zu entscheidenden Einzelfall seien aber die Interessen der inneren Sicherheit höher zu bewerten.

Nein, dieses Urteil ist nicht festliche Weihräucherei, sondern Versuch der Restaurierung eines Grundrechts. Die Richter versuchen, ihm sein Gesicht, ihm seinen praktischen Wert wieder zu geben.

Restaurierung eines Grundrechts

Sie beschränken sich nicht darauf, die Bedeutung des Redaktionsgeheimnisses und des Informantenschutzes in allgemeiner Form hervorzuheben. Sie weisen Polizei, Staatsanwaltschaften und Gerichte an, die Normen des Straf- und Sicherheitsrechts im Lichte der Pressefreiheit auszulegen. Durchsuchungen von Redaktionen und Privaträumen, um so einen Informanten zu ermitteln, sind künftig unzulässig. Die Pressefreiheit hat also neue Kraft erhalten.

Nach diesem Urteil gilt in Deutschland eine Rechtslage wie in der Schweiz: Verweigern dort Journalisten "das Zeugnis über Inhalt und Quellen ihrer Informationen, so dürfen weder Strafen noch prozessuale Zwangsmaßnahmen gegen sie angeordnet werden". Die höchsten deutscher Richter haben also dafür gesorgt, dass investigativer Journalismus nicht mehr, wie bisher oft, fast automatisch als Anstiftung oder Beihilfe zum Geheimnisverrat bewertet werden kann.

Das Urteil ist kein Privileg für Journalisten zur bequemeren Berufsausübung, sondern ein Beitrag zum Funktionieren der Demokratie; eine Demokratie, in der Skandale unter den Teppich gekehrt werden können, ist keine gute Demokratie.

Staatstätigkeit ist grundsätzlich "res publica", also vor den Bürgern offenzulegen. Die höchsten Richter hätten daher durchaus noch weiter gehen und die Strafbarkeit einer Anstiftung oder Beihilfe zum "Geheimnisverrat" kategorisch ausschließen können.

Das Bundesverfassungsgericht hat das Grundrecht der Pressefreiheit nach der Vorlage des Spiegel-Urteil aus dem Jahr 1966 wiederhergestellt; das Cicero-Urteil ist also in Wahrheit ein Spiegel II-Urteil.

Es hebt die Grundsätze, die das Verfassungsgericht in den Gründerzeiten der bundesdeutschen Demokratie aufgestellt hat, hinein in das Informations- und Medienzeitalter. Es ist ein Urteil zur Sicherung eines Grundrechts; die eher zaghaften Gesetzentwürfe "zur Sicherung der Pressefreiheit", welche die Grünen und die Freidemokraten im Bundestag eingebracht haben, werden damit eigentlich obsolet; aber vielleicht sind sie ausdrücklich "zur Sicherung" der Forderungen des Verfassungsgerichts doch notwendig.

Die Spiegel-Affäre der frühen sechziger Jahre war das demokratische Fegefeuer der jungen Bundesrepublik. Rudolf Augstein, vom Staat hinter Gitter gesetzt, wurde in dieser Haft in den publizistischen Hochadel erhoben. Und das Spiegel-Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1966 wurde zum Triumph der Pressefreiheit.

Damals kam der Ruf auf, mehr Demokratie zu wagen. Heute geht es darum, Demokratie zu sichern - durch verantwortliches Nutzen von Freiheit. Das Bundesverfassungsgericht hat mit dem Cicero-Urteil das Seine getan. Das übrige muss die Presse selbst tun - die Journalisten, die Verleger, die Medien-Unternehmen.

"Die erste Freiheit der Presse besteht darin, kein Gewerbe zu sein". Dieses Zitat von Karl Marx, hat sich jüngst Bundespräsident Horst Köhler zu eigen gemacht. Es erinnert daran, das Pressefreiheit nicht Ausfluss der Unternehmerfreiheit ist; sie dient dem unbehelligten Sammeln und Bewerten von Informationen - und damit dem Bürger.

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