Süddeutsche Zeitung

"Churchill, Hitler und der unnötige Krieg":Hitler? Harmlos!

US-Politiker Pat Buchanan behauptet, den wahren Schuldigen für alle Übel des Zweiten Weltkriegs gefunden zu haben: Winston Churchill. Doch Buchanan ist ein miserabler Historiker.

Franziska Augstein

Im Januar 1941 erklärte das Magazin Time Sir Winston Churchill zum "Mann des Jahres": Mutig kämpfte Großbritannien unter seiner Führung gegen das mächtige NS-Reich. Und wenn die britische Moral sank, sorgten Churchills überwältigende Reden für eine neue Hausse. Der Premierminister war für den Krieg gemacht. Als er von Britanniens "größter Stunde" sprach, meinte er damit nicht zuletzt seine eigene. 2002 wählte das Publikum der BBC Winston Churchill zum größten Briten aller Zeiten.

Es gibt freilich Leute, die Churchill so gut nicht wegkommen lassen wollen. In diesem Frühjahr hat der Schriftsteller Nicholson Baker eine Sammlung zeitgenössischer Zitate über "den Beginn des Zweiten Weltkriegs" publiziert: "Human Smoke" hält den Pazifismus hoch und die Zitate, die Baker gesammelt hat, sind so arrangiert, dass Churchill als fanatischer Kriegstreiber erscheint, der sich wie ein unbelehrbar ungeduldiger kleiner Junge alle paar Wochen aufs Neue erkundigt, ob man nicht endlich die deutschen Wälder abfackeln könne.

Jetzt ist ein neues Buch herausgekommen, das - aus einer anderen Perspektive - auch ein vernichtendes Urteil über Churchill fällt. Der schillernde amerikanische Politiker Pat Buchanan macht den Briten für fast alles Üble verantwortlich, was im Zweiten Weltkrieg und in seiner Folge geschehen ist ("Churchill, Hitler, and the Unnecessary War", Crown, New York 2008).

In den neunziger Jahren versuchte Buchanan zweimal vergeblich, republikanischer Präsidentschaftskandidat zu werden. 2000 gelang es ihm, allerdings nicht an der Spitze der Republikaner, sondern bei der rechts-erratischen Reform Party. Nachdem deren staatliche Zuschüsse für Buchanans Wahlkampf aufgebraucht waren und sein Wahlergebnis zu wünschen übrigließ, kehrte er zu den Republikanern zurück. Nebenbei bemüht er sich, die Geschichte umzuschreiben.

"Churchill, Hitler und der unnötige Krieg": So heißt Buchanans Werk, ein politisches Pamphlet, in dem der Autor dazu aufruft, Lehren aus der Geschichte zu ziehen: Anstatt eine Churchill-Büste im Weißen Haus aufstellen zu lassen, schreibt er, wäre George W. Bush gut beraten gewesen, Churchills schwere Fehler zu erkennen und daraus zu lernen.

Buchanan findet, Großbritannien hätte viel besser daran getan, sich nicht auf einen Krieg gegen Nazideutschland einzulassen. Churchills Konzentration auf den Zweiten Weltkrieg sei Schuld daran, dass Britannien sein Empire verloren habe. Für Hitlers Ziele, die Buchanan umdefiniert, hegt er Sympathien: Hitler habe lediglich die ungerechten Landverluste, die der Versailler Vertrag festlegte, revidieren wollen. Zu weiteren Eroberungen sei er von Churchill nachgerade gezwungen worden; dessen Beistandsgarantie für Polen habe die polnische Führung ermutigt.

Bushs falsche Büste

Diese sei zu Verhandlungen über den "polnischen Korridor" nach Danzig nicht mehr bereit gewesen, so dass Deutschland geradezu in einen Krieg gegen Polen hineingetrieben worden sei. Auch den deutschen Überfall auf die Sowjetunion betrachtet Buchanan als Ergebnis des Eintritts der Briten in den Krieg: Erst wenn Stalin geschlagen wäre, habe Hitler hoffen können, Großbritannien in die Knie zu zwingen - ein Land, mit dem er gern in Frieden gelebt hätte.

Buchanan hasst den Kommunismus mehr als alles andere. Hätte Churchill im März 1939 nicht zugesagt, Polen militärisch zu Hilfe zu kommen, wenn es von Deutschland angegriffen werde, dann hätte die Sowjetunion allein gegen Hitler kämpfen müssen. Und dann, so meint Buchanan, wäre der Kommunismus weltweit wohl erledigt gewesen: "Der Bolschewismus hätte vernichtet werden können. Mit dem Kommunismus hätte es 1940 zu Ende sein können." Und so wäre es nicht zur "Versklavung von hundert Millionen Christen" gekommen. Der Katholik Buchanan meint die Völker der ehemaligen Sowjetunion.

Buchanan macht sich nicht die Mühe, Widersprüche in seinem Buch aufzulösen. Einerseits nimmt er an, Deutschland sei einzig an der Expansion nach Osten interessiert gewesen; und ohne den Eintritt Großbritanniens in den Krieg, hätte das Dritte Reich die Sowjetunion bald besiegt. Andererseits behauptet er, Hitler sei in der Sowjetunion nur deshalb eingefallen, um letztlich über Großbritannien zu triumphieren; hätte er die Briten nicht niederringen wollen, wäre ihm ein Krieg gegen die Sowjetunion nicht nötig erschienen.

Lesen Sie auf Seite zwei, warum Buchanan vermutlich ein noch schlechterer Staatschef als George W. Bush wäre.

Nonsens-Ideen mit Unterhaltungswert

Zur Charakterisierung von Buchanans Buch gibt es im Englischen eine treffende Redewendung: Die Lücken in der Argumentation sind so groß, dass da ein Laster durchfahren könnte. Dem möglichen Einwand, ein siegreiches Drittes Reich hätte das KZ-System noch weiter ausgebaut, begegnet Buchanan mit der Behauptung, die Einrichtung von Vernichtungslagern sei überhaupt erst eine Folge des Weltkriegs gewesen, der wiederum ohne die britische Kriegserklärung nicht begonnen hätte. Ja, so wäre denn letztlich Churchill verantwortlich für die Vernichtung der Juden.

Zur Untermauerung seiner Thesen zitiert Buchanan bis zur Verfälschung selektiv aus Hitlers Reden. Andere Figuren und Institutionen des NS-Reichs zieht er so gut wie nicht in Betracht. Die megalomane Dynamik, die Hitler und dem NS-System eigen war, übergeht er. Henry Kissinger hat darauf hingewiesen, dass die britische Presse und mit ihr die Öffentlichkeit nach dem Beginn des Polenfeldzugs unbedingt dafür war, Hitler zu bekämpfen.

Hätte Churchill das anders gesehen, wäre er 1940 wohl nicht Premierminister geworden. Auch das ignoriert Buchanan. Den Unterhaltungswert seiner Nonsens-Ideen beiseitegelassen, ist es interessant, warum er sie überhaupt aufschreibt.

Buchanans Ideen sind nicht neu

Der Gedanke, Churchill habe einen Fehler gemacht, als er dem Dritten Reich den Krieg erklärte, ist alt. Dass Großbritannien nicht bloß die Sowjetunion zur Weltmacht werden ließ, sondern zudem auch 1945 finanziell ruiniert war und deshalb sein Empire nicht mehr aufrechterhalten konnte, hat vor rund 50 Jahren schon der Historiker A. J. P. Taylor moniert, der immer gern das Gegenteil von dem sagte, was alle dachten.

Buchanans Parteinahme für Chamberlains Appeasementpolitik ist auch nicht neu. Nach 1945 hat es sich eingebürgert, mahnend daran zu erinnern, dass Chamberlain und Daladier in München 1938 über den Kopf der tschechoslowakischen Regierung hinweg Hitlers Anspruch auf das Sudentenland stattgaben. Chamberlain wähnte, damit den Frieden zu bewahren, und bestärkte das Dritte Reich doch nur in seinem Expansionsdrang.

Auf das Münchner Abkommen bezieht sich seither, wer falsch verstandenen Friedenswillen brandmarken und einen Angriffskrieg rechtfertigen will. Aber schon anlässlich der Suezkrise 1956 und dann anlässlich des Vietnamkriegs warnten Kritiker davor, aus dem Münchner Abkommen eine falsche Lehre zu ziehen.

"America First"

1993 wollte der rechte britische Historiker John Charmley Churchill vom Sockel stürzen. Der Kriegspremier habe nur zwei Dinge erreicht: Das Empire sei verspielt und Großbritannien zum Mündel der USA gemacht worden ("Churchill: The End of Glory"). Der inzwischen verstorbene britische Historiker und konservative Politiker Alan Clark, auch er ein Freund absurder Theorien, setzte dem noch eins drauf: Nicht gegen Hitler hätte Churchill kämpfen sollen; wäre Großbritannien weitsichtig gewesen, hätte es seinen wahren Gegner schon damals in den USA erblickt.

Mit seinen exzentrischen Thesen ist Patrick Buchanan in passender Gesellschaft. Auffällig ist indes, dass er sich mit seiner Fürsprache für Chamberlain eine Argumentation zu eigen macht, die zumeist Linke und Pazifisten vorgetragen haben. Doch anders als sie hält Buchanan Chamberlains Appeasementpolitik für vernünftig, weil er ein Anhänger des Isolationismus ist, der früher auch unter dem Rubrum "America First" firmierte.

Er findet es großartig, dass die USA erst Ende 1941 in den Zweiten Weltkrieg eintraten und erst im Sommer 1944 eine zweite Front zu Lande gegen Hitlerdeutschland eröffneten: So habe Amerika Ressourcen gespart und später "das Empire beerben" können.

Und dann? Der Dritte Weltkrieg

Genauso sieht Buchanan das auch. "Amerika", schreibt er, "ist die letzte Supermacht, weil es sich aus beiden Weltkriegen bis kurz vor Schluss herausgehalten hat." Vernünftig sei es gewesen, "Vorposten der Sowjetunion" - Afghanistan, Angola und Nicaragua - von "Stellvertretern" attackieren zu lassen. Amerikanische Truppen hätten in Afghanistan und im Irak nichts zu suchen, in weit entfernten Ländern, von denen man in den USA nichts weiß.

Verfehlt sei es, dass die Bush-Regierung Nato-Beistandsgarantien an die Baltischen Republiken und andere Staaten im Umfeld der ehemaligen Sowjetunion ausgegeben habe: "Bush treibt Russland China in die Arme." Und wenn ein Krieg ausbreche, weil Russland sich anders gegenüber einem kleinen, von der Nato-Garantie aufgeplusterten Nachbarn nicht mehr zu helfen wisse, müssten die USA Russland den Krieg erklären - genauso wie Churchill dem Hitlerreich wegen der Garantie für Polen den Krieg habe erklären müssen. Das wäre dann der Dritte Weltkrieg.

Buchanan ist ein miserabler Historiker. Als bornierter "America First"-Mann, der er ist, wäre er vermutlich auch ein schlechter Staatschef, nicht besser als George W. Bush. Aber seine vernichtenden Kommentare über dessen Politik sind lesenswert. Sie treffen sich im Ergebnis mit der Kritik der Linken und Liberalen an Bush. Eine solche Bewertungsallianz der Rechten, Ultrarechten, Linken und Liberalen geschmiedet zu haben - das ist eine Leistung von George W. Bush.

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Quelle:
SZ vom 05.09.2008/sst/bosw
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