Christian Wulff:Mut zur Brücke

Während die Pegidisten laufen, redet Christian Wulff zum Thema: Wer gehört zu uns? Er erklärt die Strategie erfolgreicher Einwanderungsländer.

Von Cornelius Pollmer, Dresden

Christian Wulff ist nicht Mario Götze, er ist auch nicht Neil Armstrong, aber er reklamiert in ähnlicher Weise eine Tat für sich, einen irgendwie historischen Moment. "Damals, in Bremen, am 3. Oktober", sagt Wulff am Montag in einem Theaterhaus in Dresden, und mehr als diese Andeutung braucht er dem Publikum nicht zu geben. Wulffs Wort ist schließlich das Ticket, auf dem er zu diesem Vortrag gereist ist, Thema: "Wer gehört zu uns?" Es soll um Fragen der deutschen Identität gehen, und Dresden, gegenwärtig, am 12. Oktober, ist dafür gewiss kein schlechter Ort.

Zur Erinnerung: Wulffs Diktum, der Islam gehöre zu Deutschland, war ein Wir-schaffen-das im Entwicklungsstadium. Der frühere Bundespräsident ist noch immer dieser Meinung, und er erläutert sie am Montag zeitgleich zum Auflauf der Pegidisten auf der anderen Elbseite. Während dort abermals mit schlichten Sätzen und der Hängt-ihn-höher-Symbolik eines Galgens gearbeitet wird, spricht Wulff ruhig, differenziert und maßvoll pädagogisch über das Land und seine Menschen.

Eine Auftaktviertelstunde lang berichtet er, dass im Grunde die ganze Welt Deutschland als großartiges Land wahrnehme, wenngleich sich das gerade ändere. Ursächlich dafür seien Ängstlichkeit und Ressentiments. Dass solche Empfindungen auf Dauer nicht weiterhelfen, beschreibt Wulff später in der Diskussion. Da formuliert er ein paar freundliche Grüße an die gastgebende Stadt Dresden, die gerne sehr stolz ist auf die Leistungen ihrer Spitzenforscher aus aller Welt. Wenn etwa diese Forscher "nach Hause funken: Da kannste nicht hin, dann gehen hier viele Lichter aus". Gewiss, wer Angst habe, solle diese formulieren dürfen, ohne als Rassist dazustehen. Das bedeute aber nicht, dass man der Angst am Ende nachgeben muss.

Wulff erklärt, wie die Doppelstrategie erfolgreicher Einwanderungsländer aussieht

In der Diskussion nach seinem Vortrag sagt Christian Wulff auch, er habe die Frage "natürlich gefürchtet", ob Angst und Ressentiments im Osten besonders wucherten. Er würdigt die Leistungen dieses Ostens bei der Wiedereingliederung nach dem Mauerfall, er diagnostiziert aber auch eine Veränderungsmüdigkeit infolge dieser schweren Jahre sowie nun schmerzlich fehlende Erfahrung im Umgang mit Fremden. All das solle aber nicht handlungsleitend werden, sonst bleibt das von Wulff geforderte Sowohl-als-auch unmöglich. Alle erfolgreichen Einwanderungsländer, sagt er, würden eine Doppelstrategie fahren: "Einerseits ein Bekenntnis zu Weltoffenheit, andererseits klare Regeln und Gesetze. Das ist die Brücke." Und wer sich beim Stichwort Weltoffenheit gleich Sorgen um die Leitkultur macht, dem empfiehlt Wulff, zunächst einmal über die Bedeutung von Identität nachzudenken.

In der gegenwärtigen Diskussion gehe es zu viel um Wohlstand, zu wenig um Werte. Letztere machten Identität erst aus. "Und nur wer sich seiner Werte bewusst ist, kann diese auch bewahren." Wulff sagt, er hege gerade jetzt den Wunsch, dass noch viele Menschen mehr offen für diese Werte einträten: Meinungsfreiheit, Gleichberechtigung der Frau et cetera.

Ins chronisch gereizte Dresden bringt Christian Wulff schließlich einen Verdacht. Nämlich den, dass es vielleicht noch einen schöneren Status gibt als den des Bundespräsidenten: den des Ex-Bundespräsidenten. Wulff prahlt beiläufig mit seinen immer noch weiten Reisen ("Ich bin Ehrenbürger von Tarsus, dem Geburtsort des Apostel Paulus") und, weniger beiläufig, mit seinem Handapparat und der daraus folgenden Belesenheit. Wulff zitiert: "Einem Sterblichen, gleich wem, sein Haus zu verwehren, gilt als Frevel." Dann sagt er: "Der Satz stammt tatsächlich von Tacitus, nicht von Frau Merkel."

Die gelassenen Reiseberichte lindern bei einigen im Saal ein wenig die Angst vor dem Fremden. Dass Fremdheit ohnehin ein mitunter schwieriges Konzept ist, hatte Wulff schon bei seinem Gang zum Vortrag festgestellt. Vor dem Theater sprach er mit einem Mann aus Libyen. Der Mann sagte, ihm gehe es gut hier, es fehle ihm aber die Frau und Mutter von bald drei gemeinsamen Kindern. Wo ist sie?, fragte Wulff. "Noch in Niesky", sagte der Mann. Wulff versuchte daraufhin, mit ein paar Nachfragen herauszubekommen, in welcher Woiwodschaft oder welchem wirklich fernen Land dieses "Niesky" denn liege.

Kleiner Service: Niesky liegt im Landkreis Görlitz, etwa 100 Kilometer östlich von Dresden.

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