Für einen Moment ahnte man, warum der Kreml diesen Mann so sehr fürchtet, dabei ist es gerade jener Moment, in dem er am wehrlosesten erscheint. Während der Richter den Yukos-Gründer Michail Chodorkowskij und seinen Geschäftspartner Platon Lebedjew schuldig spricht, brechen vor den Toren des Moskauer Chamowniki-Gerichtes Tumulte aus.
Hunderte Anhänger Chodorkowskijs haben sich versammelt, rufen erst "Freiheit", dann "Russland ohne Putin", schließlich "Schande" - ein Crescendo der Wut, das bis hinauf in den Gerichtssaal dringt und das hastige Wispern des Richters übertönt. Russische Spezialeinheiten, eilig herbeigeschafft, nehmen mehr als 20 Menschen fest. Die Menge verläuft sich erst nach Stunden. Die Angst der Mächtigen bleibt.
Bis das Strafmaß verkündet wird, was womöglich erst im neuen Jahr geschieht, ist der Chodorkowskij-Prozess nicht nur das wichtigste Verfahren in Russlands postsowjetischer Geschichte, ein Testfall für die rechtsstaatlichen Prinzipien von Präsident Dmitrij Medwedjew - er ist auch ein Sicherheitsrisiko.
Michail Chodorkowskij ist kein Heiliger, nicht mal ein großer Tschechow'scher Humanist, sondern ein Ex-Milliardär mit politischen Visionen. Viele Russen haben den ersten Prozess, in dem Chodorkowskij und Lebedjew wegen Steuerhinterziehung zu acht Jahren Haft verurteilt wurden, eher kühl aufgenommen.
Inzwischen sind Jahre ins Land gegangen und der Pakt zwischen Regierung und Gesellschaft ist brüchig geworden. Als Öl und Gas noch Wohlstand für Millionen brachten, ließen sich viele die politische Mitsprache bereitwillig abkaufen. Die Krise aber hat vielen vor Augen geführt, wie flüchtig dieser Konsum ist, während sie politisch weiter gegängelt werden.
Demokratie und eine unabhängige Justiz hat ihnen der Präsident hundertfach versprochen. Es sind Versprechen geblieben. Deshalb entzünden sich gerade an diesem zweiten Chodorkowskij-Prozess für einen Teil der russischen Öffentlichkeit solche Emotionen. In den absurden Vorwürfen, die eine fast titanische kriminelle Energie voraussetzen, in der verschleppten Ladung der Zeugen, in der Willkür, mit der dem einen der Prozess gemacht wird, während der andere für dieselbe Tat nicht einmal gerügt wird, in der Zerschlagung eines florierenden Unternehmens im Namen der Staatsräson, die in Wahrheit die persönlichen Geschäftsinteressen einzelner Beamter meint - in diesem Klima der Ohnmacht blicken viele Russen auf Michail Chodorkowskij - und erkennen sich selbst.
Kein Mensch weiß, ob Michail Chodorkowskij in Freiheit der bessere Präsident wäre, ob er überhaupt einen passablen Politiker abgeben würde. Aber solange der russischen Führung im Umgang mit ihren Kritikern - und seien es jene greisen Mütterchen vor dem Gerichtssaal - nichts anderes einfällt als der Knüppel, bleibt Chodorkowskij der gefährlichste Gegner des Kreml.