Süddeutsche Zeitung

"China verstehen": Helen Wang im Gespräch:"Die Mittelschicht macht sich große Sorgen"

Die Autorin Helen Wang weiß, wie Chinas aufstrebende Mittelschicht denkt. Im Interview erklärt sie, warum derzeit ausländische Pässe im Land äußerst begehrt sind, die neuen Gutverdiener Angst um ihr Vermögen haben und politische Veränderungen unausweichlich sind.

Johannes Kuhn

Chinas Kommunistische Partei beschließt den Austausch ihrer Führungsriege. Die Zäsur kommt zu einem Zeitpunkt, an dem das Land sich geopolitisch längst auf Augenhöhe mit den USA befindet, gleichzeitig aber von vielen inneren Konflikten geprägt ist. In einer Reihe von Kurzinterviews spricht Süddeutsche.de mit Landeskennern über die wirtschaftliche, soziale und kulturelle Lage in China.

Helen Wang ist eine preisgekrönte Autorin, Beraterin und Forbes-Kolumnistin. Geboren in China, lebt sie seit mehr als 20 Jahren in den USA, die längste Zeit davon im Silicon Valley, wo sie Start-ups berät. Ihr Buch "The Chinese Dream: The Rise of the World's Largest Middle Class and What It Means to You" gewann den Eric Hoffer Book Award und den First Horizon Award. Helen Wang bloggt auch für Forbes.

Süddeutsche.de: Wie bewertet Chinas Mittelschicht die vergangenen zehn Jahre?

Helen Wang: Sie haben das Gefühl, dass sich ihr Leben stark verbessert hat. Viele von ihnen leben nun in ihren eigenen vier Wänden und fahren ein Auto, während ihre Eltern vor 30 Jahren in Slums wohnten und sich kaum ein Fahrrad leisten konnten.

Und wie sieht die Bewertung der Regierung aus?

Viele sind überzeugt von dem, was Hu Jintao geschafft hat, aber viele machen sich große Sorgen. Die politische Lage ist unsicher, während meiner letzten Reise dorthin im September beschwerten sich viele über Korruption, die wachsenden Einkommensunterschiede zwischen Arm und Reich. Und sie hatten Angst davor, dass die wachsende Kriminalität und die Proteste zu Aufruhr im Land führen werden.

Wie hoch ist das Vertrauen in das System?

Insgesamt sehr niedrig, weil keine Gesetze gelten. Die Vertreter der Mittelschicht glauben nicht daran, dass die Regierung ihre Sicherheit und ihr Vermögen schützen wird. Deshalb verlassen viele das Land, versuchen, sich ausländische Pässe zu besorgen. Oder sie investieren zumindest ihr Geld in den Westen oder schicken ihre Kinder auf Universitäten im Ausland.

Kann die Mittelschicht überhaupt etwas verändern?

Die chinesische Mittelschicht bilden 300 Millionen Menschen, das sind aber nur 25 Prozent der Bevölkerung. Ein entscheidender Faktor ist sie noch nicht, aber sie lassen sich nicht mehr alles gefallen. Früher gingen die Bauern auf die Straße, die ihr Land verteidigen wollten. Heute sind es immer mehr Menschen aus der Stadt, die keine Lust mehr auf die Umweltverschmutzung haben, die ihre Gesundheit zerstört. Sie demonstrieren gegen neue Straßen, den Ausbau von Fabriken und Minen. Das Internet wird zum Instrument, seine Meinung zu äußern.

Reicht das für eine Veränderung?

Aus Ländern wie Taiwan und Südkorea wissen wir, dass Länder an einem gewissen Punkt des ökonomischen Fortschritts demokratisch werden. Der liegt bei einem Einkommens-Median von 5000 bis 10.000 US-Dollar. 2011 hatte China ein Brutto-Inlandsprodukt von 8000 Dollar pro Kopf. Das heißt, dass Veränderungen im politischen System eigentlich bevorstehen müssten, ja wahrscheinlich sogar unausweichlich sind.

Wie könnten die aussehen?

Ich glaube, dass China einen Punkt erreicht hat, an dem politische Reformen notwendig sind, um weiterhin Wachstum und Stabilität zu garantieren. Einige Menschen in China loten gerade aus, ob es vielleicht innerhalb der Kommunistischen Partei Fraktionen oder zumindest Wettbewerb geben könnte. Das wäre ein erster Schritt hin zu demokratischen Reformen.

Was erwarten sich die Chinesen von den nächsten zehn Jahren?

Für mein Buch habe ich mit mehr als 100 Menschen gesprochen. Viele sagten mir: "Nur wenn wir wirtschaftliche Freiheit haben, werden wir politische Freiheit bekommen." Sie glauben nicht unbedingt daran, dass China den Westen kopieren muss - aber sie sind sich sicher, dass der "Trend zur Demokratisierung" unaufhaltsam ist. Ich hoffe, dass die chinesische Führung auf der richtigen Seite der Geschichte stehen möchte.

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