Es ist Zeit aufzuhorchen. Hinzuschauen. Nach China. Dort entsteht etwas, was es so noch nicht gab. Die Kommunistische Partei krönt ihren Parteichef Xi Jinping zum Kaiser und erfindet die Diktatur neu. In Konkurrenz zu den Systemen des Westens. Das hat gewaltige Implikationen für die Demokratien der Erde.
Xi hat diese Woche beim Parteitag der KP in Peking seine Vision vorgestellt. Er hat ein Land gezeichnet, das bis zum Jahr 2050 als "starke Macht" in der Lage ist, die Welt anzuführen. Und eine Partei, die uneingeschränkt herrscht. Die Partei dankt Xi, in dem sie ihn in den Pantheon ihrer großen Denker aufnimmt.
Die Propaganda feiert nun die "Xi-Jinping-Gedanken". Solche Ehre wurde zuletzt Mao Zedong und Deng Xiaoping zuteil. An Xis Losung vom "Neuen Zeitalter des Sozialismus chinesischer Prägung" ist zumindest eines zutreffend: China tritt in ein neues Zeitalter. Nach der Ära Mao Zedong und der Ära Deng Xiaoping beschert die KP dem Land die Ära Xi Jinping. Nicht dass Xi dieser Partei etwas Wesensfremdes aufdrücken würde, eher im Gegenteil: Er exekutiert ihre geheimsten Wünsche mit Wucht.
Im Zentrum: die politische Kontrolle
Der Westen muss sich nun von jenem Wunschdenken verabschieden, das ein weiser Autor vor Jahren als "Chinafantasie" entlarvte: die Vorstellung, dass wirtschaftliche Öffnung und wachsender Wohlstand automatisch eine politische Liberalisierung Chinas mit sich bringen. Wandel durch Handel. Das war vielen lange eine praktische und beruhigende Vorstellung.
Immerhin: In den vergangenen Jahrzehnten hatte es wenigstens im Unterbauch des Landes und der Partei Reformströmungen, Debatten, Experimente gegeben. In Xis China ist das nicht länger so: Er hat sie trockengelegt, die nichtorthodoxen Strömungen. Zuchtmeister Xi tritt an zu beweisen, dass eine Autokratie viel besser geeignet ist, ein Land wie China groß und mächtig zu machen. Ja, dass es zur Verwirklichung seines "chinesischen Traums" der starken Diktatur der Partei bedarf.
Xi macht Schluss mit Prämissen der Reform- und Öffnungspolitik Deng Xiaopings. Sein China ist nicht länger ein Staat, der dem wirtschaftlichen Erfolg alles unterordnet. Im Zentrum steht nun die politische Kontrolle. Seine Partei ist keine mehr, die Aufgaben abgibt, an den Staat, an Unternehmen, an NGOs. Jedes Fleckchen China soll ihr wieder gehorchen. Xi hat die wachsende Meinungsvielfalt wieder erstickt und großen Teilen der Zivilgesellschaft den Garaus gemacht. Xi diszipliniert Partei und Nation mit solcher Verve, dass manche sagen, China werde zum "Nordkorea light". Genährt wird dieser Eindruck von Bildern aus Kindergärten, wo Vierjährige stramm im Kreis sitzend Xis dreieinhalbstündige Parteitagsrede verfolgen, und von der Propaganda, die berichtet, Xis Weisheiten würden auch in albanischer Übersetzung gefeiert.
Es ist also ein Zurück mit großen Schritten zu beobachten. Eine Reideologisierung und Rhetorik, die manche zum Vergleich mit Mao verführt, ein Vergleich, der aber hinkt: In vielem ist der Kontroll- und Stabilitätsfetischist Xi die Antithese zu Mao, der das Chaos liebte.
Es stimmt, zwei Experimente aus Maos Erbe erleben gerade ein Comeback: die Gedankenkontrolle durch den Parteiapparat und der Versuch, einen neuen Menschen zu formen. Bloß glaubt die KP diesmal viel bessere Chancen zu haben: Chinas Diktatur gewährt sich gerade ein Update mit den Instrumenten des 21. Jahrhunderts. Sie marschiert mit Riesenschritten in die Zukunft, setzt auf Big Data, auf künstliche Intelligenz und neue Technologien wie keine zweite Regierung.
Sie glaubt, den perfekten Überwachungsstaat schaffen zu können. Noch besser: einen, dem man die Überwachung oft nicht einmal ansieht, weil er sie in Leben und Köpfe der Untertanen selbst verpflanzt. Dieses neue China soll kein riesiges Militärlager sein wie noch bei Mao, eher eine von außen bunt anzusehende Mischung aus George Orwells "1984" und Aldous Huxleys "Schöner neuer Welt", wo sich der Mensch mit Kommerz und Vergnügen der Überwachung von selbst ergibt. Mit dem "Sozialen Bonitätssystem" etwa, das von 2020 an jeden Chinesen für jede seiner Handlungen mit Pluspunkten belohnen oder mit Punktabzug bestrafen wird. Mithilfe von künstlicher Intelligenz soll das System den sozial funktionierenden und politisch gefügigen Untertanen schaffen, der sich selbst zensiert und sanktioniert.
Kein neuer Kalter Krieg - aber ein Wettbewerb der Systeme
Hätte Xis KP Erfolg mit ihren Plänen, es wäre die Rückkehr des Totalitarismus im digitalen Gewand. Kann das funktionieren in einem Land, dessen Gesellschaft heute vielfältig ist wie nie? Die KP steht vor gewaltigen Herausforderungen, die Spaltung des Landes in Arm und Reich ist eine davon. Und Xis Autokratie birgt ihre eigenen Risiken: Sie macht ein bis vor Kurzem erstaunlich flexibles System rigide und unempfänglich für Kritik und neue Ideen. Sie gebiert ihm Feinde in den eigenen Reihen. Xi weiß um die Probleme. Auch deshalb schenkt er seinem Volk die nationale Großmachtfantasie. Und einen neuen ideologischen Feind: den Westen. Von allen Wegen, die Nation zu einen, sind das die billigsten.
Es sind auch die, die dem Westen am meisten zu denken geben sollten. Nach Jahren in der Defensive propagiert die KP wieder stolz die vermeintliche Überlegenheit ihres Systems. Die Selbstdemontage der USA unter Donald Trump ist ihr ein Geschenk. Gut möglich, dass China in Teilen der Welt für seine Diktatur 2.0 einen Markt findet. Nein, ein neuer Kalter Krieg ist das noch lange nicht, aber der Wettbewerb der Systeme ist wieder da.
Europa muss sich ihm stellen. Die liberalen Demokratien müssen eine Stimme finden dem neuen China gegenüber. Natürlich kann und soll man mit China weiter kooperieren, egal ob beim Nordkoreaproblem, Klimawandel oder globalen Finanzsystem. Aber die Europäer müssen das tun in Kenntnis um die innere Verfasstheit Chinas und seiner möglichen Absichten. Es ist Zeit, dass Europa seine Ignoranz und Naivität ablegt. Und dass es sich nicht mehr auseinanderdividieren lässt. Eines ist gewiss: Die größte Herausforderung für die Demokratien des Westens in den kommenden Jahrzehnten wird nicht Russland, es wird China sein.