Es gibt ein Spiel, das sich nicht nur für dröge Konferenzen und Politikerreden eignet, sondern auch für Bücher, die man lieber im Regal stehen lassen sollte. Beim Bullshit-Bingo werden statt der Karten mit Zahlen, die aus einer Lostrommel gezogen werden, Karten mit Begriffen gebastelt. Worte, die man eben so zu bestimmten Themen sagt. Die Spieler streichen diese, wenn sie fallen. Wer zuerst eine Reihe voll hat, ruft Bullshit, also Unsinn. Das neue Buch des Journalisten Theo Sommer eignet sich für diese alternative Form des Bingos: Chinas Masterplan! Künstliche Intelligenz! Seidenstraße! Konfuzius! 5000 Jahre Geschichte! China First! Der ehemalige Chefredakteur und Herausgeber der Zeit beschäftigt sich in dem gerade erschienenen Buch mit dem Aufstieg Chinas in den vergangenen 40 Jahren. Dabei kommt er leider über Allgemeinplätze nicht hinaus.
In seiner Einleitung beginnt Sommer mit der Bemerkung, dass viele Zeitungen einem Irrtum unterlegen seien, wenn sie schrieben: "Die Chinesen kommen". Denn diese seien längst da. "Was kümmert es uns, wenn in China ein Sack Reis umfällt, pflegten wir früher zu sagen. (...) Wenn heute in China ein Sack Reis umfällt, bebt die Erde." Das ist platt. Sommer sieht sich zudem als Aufrüttler. Dabei ist die Debatte über den richtigen Umgang mit China in Deutschland längst entfacht. Der Streit um den Einsatz der Huawei-Technologie beim Ausbau der 5-G-Infrastruktur brodelt. Auch wer die vergangenen Monate auf der Rückseite des Mondes verbracht haben sollte, kennt die Fälle Kuka, Aixtron und Osram. Viele Kapitel seines Buches ("Supermacht mit Plan", "Make China great again!" und "Die Chinesen gehen auf Einkaufstour") haben 2018 die Titelseiten deutscher Medien dominiert.
Ob zum Automarkt, dem Ausbau der Infrastruktur oder den chinesischen Investitionen in Europa: Sommer hat akribisch und umfassend Fakten und Zahlenmaterial zum Aufstieg Chinas recherchiert. Er schreibt über Firmengründer wie Jack Ma von Alibaba, springt zu Chinas Investitionen auf dem Balkan, schiebt davor eine halbe Seite über die ausbleibende Vergangenheitsbewältigung ein und schreibt nur ein paar Seiten später in einem Exkurs über Chinas Afrikapolitik über ein Potenzmittel aus Eselshäuten. Dabei zitiert er so ausführlich andere Quellen und Korrespondenten vor Ort und ergänzt gleichzeitig so wenig Neues, dass sich das Buch über weite Strecken liest wie die Zeitung von gestern. Erst auf den letzten Seiten geht es so richtig um die Frage, wie eine realistische China-Politik aussehen könnte ("Es muss ein Wettstreit in Grenzen bleiben, wenn ein neuer Kalter Krieg, gar ein Schießkrieg verhindert werden soll.") Das kommt leider viel zu spät.
Interessant sind Sommers Einschübe über seine früheren Reisen nach China. Das erste Mal kam er 1975 im Pressetross von Helmut Schmidt in das kommunistische Land (wobei er wiederholt betonen muss, wie eng sein Verhältnis mit dem Politiker gewesen ist). Vier Jahre später schrieb er mit "Die chinesische Karte" sein erstes Buch über China. Damals verbrachte er nur 15 Tage vor Ort und fabrizierte daraus ein mehr als 300 Seiten dickes Buch, indem er seine Zweifel an den ehrgeizigen Zielen der Pekinger Führungsriege äußerte. Seine Diagnose von damals: "Völlig schief", wie er selbst in seinem neuen Buch zugibt. "Wie so viele habe ich mich da gründlich getäuscht." Interessant wäre gewesen, wenn er diese Erkenntnis aufgenommen und zur Grundlage seiner aktuellen Analyse gemacht hätte. Dadurch hätte er etwas substanziell Neues zu der Debatte über Chinas Aufstieg hinzufügen können. Aspekte, die nicht von anderen früher und bereits klarer formuliert wurden.
Wie viele Dissidenten gibt es? Eine kleine Schar oder doch fast 70 Millionen?
"China First" beginnt bereits mit einer halben Entschuldigung. Nämlich, dass er kein Sinologe sei. Sondern vielmehr ein Journalist, der seit fast sieben Jahrzehnten die Weltpolitik begleitet. Asien sei eines der großen Themen seines Lebens gewesen. Nach 1975 sei er "immer wieder" und in journalistischen Angelegenheiten im Land unterwegs gewesen. Zuletzt 2016 als Begleitung auf einer Leserreise seiner Zeitung. Ob Sommers Einblicke tief genug gehen, um eine treffende Analyse über die Situation im Land abzugeben, daran könnten dem Leser aufgrund zahlreicher Ungenauigkeiten Zweifel kommen. Im Vergleich zum Peking der 1970er-Jahre seien "Fahrräder nur noch selten zu sehen", schreibt Sommer. Dass die Städte im Land seit gut zwei Jahren mit Leihfahrrädern verstopft sind, die zu Millionen in den Straßen stehen, scheint er nicht mitbekommen zu haben. An anderer Stelle schätzt er: "Dissidenten - zwei Prozent oder fünf Prozent des Volkes? - fallen gegenüber der passiven Mehrheit kaum ins Gewicht." Fünf Prozent wären immerhin fast 70 Millionen Dissidenten. An anderer Stelle spricht er aber von einer "kleinen Schar". Über Tony Chen, den Gründer des Tech-Unternehmens Oppo, schreibt Sommer, er sei im August 2018 in die Smartphone-Produktion eingestiegen - dabei war Oppo im Jahr 2016 der größte Handyhersteller Chinas. 2011 kam das erste Modell auf dem Markt. Wer sich vor Ort bewegt, kennt die Marke so wie Apple und Samsung. Ärgerlich ist außerdem, dass er an zahlreichen Stellen chinesische Namen falsch schreibt und zwischen den Umlautschriften wechselt.
Manchmal wirken Theo Sommers Analysen auch einfach kurios. Deutschland könnte sich aus seiner Sicht "an den Autobahnraststätten mit ihrem reichhaltigen Angebot leckerer Speisen einschließlich frisch handgedrehter Nudeln (und sogar an den Toiletten!) gern ein Beispiel nehmen", schreibt er. Chinesische Artisten wiederum hält Sommer für einen Teil der Softpower-Strategie Pekings. Immerhin würden diese "in keinem großen Zirkus" fehlen.