Süddeutsche Zeitung

China:Merkels Auftrag

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Bundeskanzlerin Angela Merkel muss den Bürgern sagen, was sie selbst längst weiß: dass die Welt sich vor allem wegen des Aufstiegs der Volksrepublik China dramatisch verändert und Deutschland sich auf diese neue Lage schleunigst vorbereiten muss. Es geht dabei um Mut und Aufbruch.

Von Stefan Braun

Seit Angela Merkel den CDU-Vorsitz abgegeben hat, kann man eine andere Kanzlerin erleben. Nicht im Regieren, nicht im Ausbalancieren der Kräfte im Kabinett. Wohl aber darin, wie sie über das spricht, was ihr wirklich wichtig ist. So konnte man zuletzt erfahren, wie sehr ihr die Solidarität unter Frauen am Herzen liegt; wie dramatisch sie das Wiedererstarken des Rechtsradikalismus erlebt; wie harsch sie im Kampf gegen die Erderwärmung mit sich selbst hadert - und wie sehr sie heute für Kompromisse wirbt, wenn es um den Zusammenhalt in der EU geht. Merkel, die Sphinx - das war einmal.

Nur an einer Stelle klafft eine Lücke. Und diese Lücke bündelt sich in einem Namen: China. Dabei geht es nicht um eine Dienstreise, nicht um einen Kabinetts-ausflug und erst recht nicht um ein Land in weiter Ferne. Es geht um eine massive Veränderung der Welt - und die Frage, was das für Deutschland bedeutet.

Kein anderes Land steht so sehr für die globale Veränderung auf der Welt wie China. Keines hat es geschafft, neben den USA eine Potenz zu entwickeln, an der niemand mehr vorbeikommt. Mit einer atemberaubenden Geschwindigkeit bei der Digitalisierung der eigenen Gesellschaft, was dem Land nebenbei datentechnisch unfassbare Vorteile einbringt; mit einem beängstigenden Machtanspruch der chinesischen Führung, die demonstrativ alle Demokratien als Staatsform herausfordert; und mit einer Wirtschaftskraft, von der sich - vielleicht mit Ausnahme der USA - kein Land mehr ohne große Verluste emanzipieren könnte.

Für das Exportland Germany verbinden sich damit existenzielle Fragen; für das weltoffene, demokratische Deutschland erwächst daraus eine Herausforderung, die niemand mehr ignorieren sollte. China ist zur Weltmacht aufgestiegen, die bis in die EU ausgreift, indem es ärmeren EU-Staaten Geschäfte, Geld und Partnerschaft anbietet. Deutschland muss sich wappnen, will es sich behaupten.

Merkel weiß das, in allen Einzelheiten. Kein anderes Land studiert und seziert sie mit vergleichbarer Akribie. Und sie stellt sich längst alle Fragen: Wie stehen die Deutschen da im Vergleich zu China? Führen sie noch die richtigen Debatten? Setzen sie die notwendigen Prioritäten? Reicht die deutsche Ingenieurskunst noch, um den Wohlstand zu sichern? Und was muss geschehen, wenn sich Europa eine prägende Kraft erhalten möchte?

Die Kanzlerin muss den Bürgern sagen, was sie längst weiß: wie sehr die Welt sich ändert

Ende der Woche ist die Kanzlerin zum zwölften Mal in Peking gewesen. Man kann davon ausgehen, dass sie mit großen Sorgen zurückgekommen ist. Zu heikel und brüchig ist eine Welt geworden, in der Amerika und China gefährlich streiten, Europa an Energie einbüßt und Deutschland hechelnd bemüht ist, Schritt zu halten. Umso mehr stellt sich die Frage, wann die Kanzlerin das offen ausspricht? Wann sie den Menschen das sagt, was sie selbst längst weiß: dass Deutschland sich auf diese neue Welt schleunigst vorbereiten muss. Wann wird sie versuchen, die Debatte um eine Grundrente in Relation zu setzen zu den gewaltigen Aufgaben, die in Wahrheit bevorstehen? Wann wird sie öffentlich dafür werben, sich ganz anders und also viel entschlossener für den digitalen Wettbewerb auszubilden und auszustatten? Und wann wird sie mit aller Klarheit aussprechen, dass Europa sich mutig neu positionieren muss, wenn es noch ein Wort mitreden möchte?

Es geht nicht um eine Traueransprache. Es geht um Mut und Aufbruch.

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Quelle:
SZ vom 09.09.2019
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