China:Tastentrauma

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An ihm liegt's nicht: Chinas berühmtester Pianist Lang Lang.
An ihm liegt's nicht: Chinas berühmtester Pianist Lang Lang. (Foto: IMAGO/VCG)

Nach einem Klavier-Hype ist Chinas Pianoindustrie in der Krise. Für viele Kinder ist das ein Grund zur Freude.

Von Florian Müller, Peking

Mitte Januar spielte der britische Boogie-Woogie-Pianist Brendan Kavanagh auf einem öffentlichen Klavier im Londoner Bahnhof St. Pancras eine live ins Internet gestreamte Show. Plötzlich tauchten ein paar Passanten mit chinesischen Flaggen im Hintergrund auf. Als sie merkten, dass er filmte, verlangten sie, dass er die Aufnahmen lösche. Kavanagh weigerte sich mit dem Hinweis, dass Großbritannien "nicht China" sei. Es folgte eine verbale Auseinandersetzung, in der die Gruppe ihn unter anderem des Rassismus bezichtigte.

Das Video ging viral. Die Gruppe erntete viel Hohn dafür, dass sie versucht hätte, die in China allgegenwärtige Zensur auch im Ausland durchzusetzen. Kavanagh erhielt laut eigenen Angaben Todesdrohungen von Unterstützern der Kommunistischen Partei Chinas. Doch er will sich nicht einschüchtern lassen, tourt durch die Medien und verklärt das Klavier zum Hort der "künstlerischen Freiheit" gegen das autokratische Regime in Peking.

Vermutlich weiß er nicht, dass nur wenige Menschen in China Klavier und Freiheit in einem Satz denken würden. Denn eine ganze Generation verbindet eher traumatische Erlebnisse mit dem Tasteninstrument.

Es war rund um das Jahr 2008, als in China ein Klavier-Hype ausbrach. Millionen Eltern schickten ihre Kinder zum Piano-Unterricht und schafften Instrumente an. Der Grund: Nach einer Bildungsreform konnten Schüler zusätzliche Punkte sammeln für den "Zhongkao", die Aufnahmeprüfung für die Oberstufe, wenn sie die höchste Leistungsstufe auf dem Klavier erreichten. Viele Kinder mussten deshalb stundenlang täglich nach dem normalen Schulunterricht üben und strenge Klavierprüfungen überstehen, die in den Augen ihrer Eltern über ihre Zukunft entscheiden würden. Der Druck war immens, Schlafmangel und Depressionen oft die Folge.

Das Klavier wurde zum Statussymbol

Die Musikindustrie verdiente kräftig. Der Zeitung Lianhe Zaobao zufolge stieg in städtischen Haushalten die Zahl der Klaviere von durchschnittlich 1,3 je hundert im Jahr 2001 auf mehr als acht im Jahr 2021. Rund 40 Millionen Menschen lernten das Instrument. Es wurde zum Statussymbol des aufstiegshungrigen Bildungsbürgertums.

Irgendwann erkannte auch die Regierung, dass das Tagespensum der als " Jiwa" bekannten, dauergestressten Kinder nicht gesund sein konnte. 2018 schaffte sie erst die Klaviersonderpunkte wieder ab, 2021 dann die meisten anderen außerschulischen Aktivitäten. Das war der erste Schlag gegen die Klavierindustrie. Der zweite war die Covid-Wirtschaftskrise von 2022 an. Viele Familien konnten oder wollten sich den Klavierunterricht nicht mehr leisten, die Nachfrage nach Instrumenten brach ein.

Laut dem Magazin Caijing halbierte sich die Klavierproduktion von 390 000 Stück im Jahr 2019 auf nur noch etwa 190 000 vergangenes Jahr. Lianhe Zaobao wiederum berichtet, dass 30 Prozent der etwa 650 000 Musikschulen und 25 000 Klaviergeschäfte bis Ende 2022 schließen mussten. Viele Eltern aus der Millenniumgeneration wollen ihren Kindern offenbar das zugestehen, was sie selbst als Jugendliche nie hatten: die Freiheit, ein Instrument nur dann zu lernen, wenn es ihnen wirklich Freude bereitet.

So ist das Bahnhofsklavier in London nur ein weiteres Piano, das viele Chinesen lieber meiden.

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