Süddeutsche Zeitung

Grenzkonflikt im Himalaja:Die Unruhe zwischen China und Indien wächst

Seit 1975 ist kein Soldat mehr entlang der Grenze der beiden Staaten gefallen. Doch nun ist der Konflikt um ein umstrittenes Gebiet neu entfacht. Der Grund für das Problem liegt auch in der Kolonialgeschichte der Region.

Von Arne Perras, Singapur, und Lea Deuber, München/Singapur

In Zeiten von Cyber-Attacken und nuklearer Hochrüstung wirkte der Schlagabtausch entlang der indisch-chinesischen Grenzlinie im Himalaja schlicht und archaisch. Mit bloßen Fäusten traktierten sich Soldaten beider Seiten, ein paar Steine sollen dabei auch geflogen sein. Anfang Mai war es zu dieser handfesten Begegnung in den Höhen des Himalajas gekommen. Doch die Massenprügeleien haben kaum dazu beigetragen, den Streit rund um den Gletschersee Pangong Tso beizulegen. Im Gegenteil, im Laufe des Monats haben die Spannungen rund um den neu entfachten Grenzkonflikt zwischen Peking und Delhi weiter zugenommen, die Unruhe wächst.

Indiens Premier Narendra Modi versammelte Generäle und seinen Sicherheitsberater Ajit Doval am Dienstag zu einer Krisensitzung, die Gespräche kreisten nach indischen Medienberichten um "Indiens militärische Bereitschaft", die Nachrichtenagentur PTI zitiert eine anonyme Regierungsquelle mit dem Satz: "Chinas Strategie, militärischen Druck auf Indien auszuüben, wird nicht funktionieren." Chinas Staatschef Xi Jinping wiederum erklärte am selben Tag, sein Land werde die Bereitschaft zum bewaffneten Kampf erhöhen, ohne allerdings explizit die Spannungen im Himalaja zu benennen. Kurz davor hatte ein Sprecher des chinesischen Außenministeriums betont, dass das Land eine "konsistente und klare Haltung" in dem Grenzkonflikt vertrete und es die Pflicht der chinesischen Armee sei, Chinas Gebiete und die nationale Souveränität zu verteidigen.

Die Arena liegt in 4000 Metern Höhe in Ladakh, einem Hochplateau, das Indien lange Zeit als Teil Kaschmirs beanspruchte, dann aber 2019 in ein sogenanntes Unionsterritorium umwandelte, das seither direkt von Delhi verwaltet wird. China kontrolliert östlich von Ladakh das Gebiet Aksai Chin, auch dieses Territorium, am Westrand Tibets, gehört nach der Lesart in Delhi zu Indien. Der Grenzverlauf ist nicht nur hier, sondern an vielen Punkten im Himalaja umstritten, was vor allem darauf zurückzuführen ist, dass die frühere Kolonialmacht Großbritannien unklare Verhältnisse in der Region hinterließ. Den von beiden Seiten momentan tolerierten Verlauf der Grenze bezeichnet man als die Line of Actual Control.

Indien und China haben sich später immer wieder gegenseitig vorgeworfen, die jeweils andere Seite durch angeblich unzulässige Patrouillen und Übertritte der umstrittenen Grenzlinie zu provozieren. Allerdings war es den Regierungen in den vergangenen Jahrzehnten auch stets gelungen, Blutvergießen zu verhindern. Seit 1975 ist kein Soldat mehr entlang der indisch-chinesischen Grenze erschossen worden. Gleichwohl sitzt in Indien die Schmach des verlorenen Grenzkrieges 1962 gegen China tief, und das indische Exil für den Dalai Lama aus dem von China beanspruchten Tibet hält seinerseits den Argwohn Pekings wach.

Bei den Prügeleien am 5. Mai sollen bis zu 250 Soldaten verletzt worden sein. Es ist die schwerste Grenzkrise seit 2017, als sich Truppen Chinas und Indiens in Doklam, nahe des Königreichs Bhutan, gegenüberstanden. 73 Tage hielt dort die Konfrontation an, bevor Xi und Modi sie durch Gespräche entschärften - sie fanden zuletzt in der chinesischen Stadt Wuhan statt - bevor das Virus dort wütete.

Besonders nachhaltig scheint das Konfliktmanagement damals nicht gewesen zu sein, denn nur drei Jahre später, mitten in der Corona-Krise, geraten nun die beiden Nuklearmächte erneut aneinander. Zu den Faustkämpfen im Mai kam es, als China eine indische Patrouille an der Nordseite des schlangenförmigen Pangong-Sees als Provokation einstufte. Dass es über schwere Handgreiflichkeiten nicht hinausging, ist Vereinbarungen zu verdanken, die auch das Versprechen beider Seiten enthalten, zur Beilegung der Grenzkonflikte auf Waffengewalt zu verzichten.

Peking weitet seinen Einfluss in Regionen aus, die Indien als seinen Hinterhof betrachtet hat

Doch nun wird immer deutlicher: Keine Seite scheint nachgeben zu wollen, sowohl die chinesische als auch die indische Regierung haben in den vergangenen Jahren nationalistische Gefühle zu innenpolitischen Zwecken geschürt, keine Seite will jetzt in den Bergen den Eindruck vermitteln, dass sie einknickt. India Today berichtete am Mittwoch über die angebliche Verlegung von 5000 chinesischen Soldaten nach Ladakh. Indien werde jeweils nachziehen, wenn China die Zahl seiner Truppen erhöhe, hieß es in Presseberichten aus Delhi. Reuters zitierte einen indischen Regierungssprecher, der davon berichtete, dass auf beiden Seiten Verteidigungsanlagen in der Region gebaut würden. Chinesische Trucks sollen auch Material in die Region transportieren. Ein Hinweis darauf, dass Peking sich auf einen längeren Konflikt einstellen könnte.

Auffällig ist, dass sich Chinas Staatsmedien bisher deutlich zurückhaltender geben. Peking verfolgt in der Corona-Krise eine aggressive Außenpolitik, droht und sanktioniert Staaten, die die Regierung für ihr Krisenmanagement kritisieren. Gegenüber Indien hält sich die Regierung aber zumindest verbal zurück. Nur die staatliche Global Times veröffentlichte einen Bericht, sprach von mehreren "illegalen Verteidigungsanlagen", die Indien errichtet habe und die in chinesisches Territorium reichten. Die Verteidigungstruppen hätten damit keine andere Option gehabt, als mit Truppenbewegungen zu reagieren. Indien trage die Verantwortung für das Risiko einer Eskalation.

Indische Militäranalysten warfen bereits Mitte Mai die Frage des Timings auf: Der pensionierte indische General Ajay Das sprach von "aggressiv anmutenden Manövern" des chinesischen Militärs im Himalaja, die an das Verhalten der chinesischen Flotte im südchinesischen Meer erinnerten. Angesichts der Corona-Krise wolle Chinas Führung weder im eigenen Land noch im Ausland schwach wirken, meint er. Die Zeitung Financial Express zitierte den indischen Sicherheitsexperten Ajey Lele mit den Worten: "Warum geschieht dies jetzt, inmitten der Covid-19-Krise?" Lele hält es für möglich, dass China die Entschlossenheit des indischen Militärs austesten wolle, jetzt, da Delhi so sehr mit dem Coronavirus beschäftigt ist. Und der frühere indische Diplomat Phunchok Stobdan warnt im Indian Express davor, dass China die indischen Streitkräfte weiter nach Westen zurückdrängen wolle, um auf diese Weise näher an den strategisch wichtigen Siachen-Gletscher heranzurücken, auf dem sich indische und pakistanische Truppen belauern.

Peking wiederum hatte zuvor Kritik am Bau einer indischen Straße nahe des Sees geübt und seinerseits die Zahl der Patrouillenboote auf dem Gletschersee verdreifacht. Diese Projekte - bis 2020 immerhin 66 neue Straßen entlang der Grenze - sind eine Antwort Indiens auf Chinas zahlreiche Infrastrukturprojekte im Rahmen seiner Initiative Neue Seidenstraße. Peking weitet damit seit Jahren seinen Einfluss in Südasien und Südostasien aus. Vielfach auch in Regionen, die Indien lange als seinen alleinigen Hinterhof betrachtet hat.

Eine Straße in der Nähe des Galwan-Tals dient auch als Anbindung des Militärflugplatzes Daulat Beg Oldi, der erst im Oktober eröffnet wurde. Die Route verläuft entlang der Grenze und soll Peking besonders rasend gemacht haben. "Heute, wo wir unsere Infrastruktur langsam bis in die Line of Actual Control ausweiten, verstärkt sich der chinesische Eindruck einer Bedrohung", so die frühere indische Außenstaatssekretärin Nirupama Rao. Und Xi Jinping sei Hardliner in allen Fragen von Gebietsansprüchen und Souveränität.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.4919743
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 28.05.2020/jael
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.