China im Wandel:Stadt, Land, Flucht

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Das ganze Land steht voller, neuer Retortenstädte, wie hier in Hefei (Archvbild 8. August 2012) (Foto: AFP)

Die Zahlen lassen einen schwindelig werden, wie so oft in China. In den vergangenen drei Jahrzehnten wuchs die Zahl der Städtebewohner um 400 Millionen. Peking will nun, dass weitere 250 Millionen Chinesen in Städte ziehen, damit sich ihr Leben verbessert. Dabei wäre die Abschaffung des alten Systems erforderlich, die nichts weniger als eine Revolution wäre.

Von Kai Strittmatter

China ist wieder einmal dabei, radikal sein Gesicht zu ändern. Da ist der Wille, das Land modern zu machen. Und da ist die Notwendigkeit, die Wirtschaft am Laufen zu halten, die nach drei Jahrzehnten ungebremsten Wachstums ins Stottern kommt. China braucht neue Impulse. Seit Jahrtausenden von ihrem Acker, von der Hand in den Mund lebende Bauern sollen - nein: müssen - Konsumenten werden. Das heißt: Bauern müssen zu Städtern werden. Der Politik kann das gar nicht schnell genug gehen: Wenn der Premier und seine Planer ihren Willen bekommen, sollen 250 Millionen ihrer Landsleute bis zum Jahr 2025 von der Scholle in die Stadt ziehen. Drei Mal Deutschland. In nur zwölf Jahren.

Die Zahlen lassen einen schwindelig werden, wie so oft in China. In den letzten drei Jahrzehnten wuchs die Zahl von Chinas Städtebewohnern um 400 Millionen. Schon das ist historisch einmalig. Städte wie Shenzhen wurden buchstäblich aus dem Boden gestampft: 68 000 Einwohner hatte Shenzhen im Jahr 1978, es war ein schläfriges Kaff, fast neun Millionen hat es heute, die Stadt ist größer als New York. 40 Prozent des Jahresweltverbrauchs an Zement und Stahl gingen zuletzt in Chinas Wohnungsbau. Und nun hat die Führung die Verstädterung erstmals zum Herzstück ihrer Politik erklärt, sie ist das Steckenpferd des neuen Premiers Li Keqiang.

Die Regierung vertraut auf atemberaubende Umwälzung durch Edikte

Wenn das gut geht, dann bekommt ein großer Teil der Landbevölkerung ein besseres Leben und ihr Land eine Wachstumsspritze geschenkt. Wenn es schiefgeht, dann handelt sich China soziale, ökologische und finanzielle Probleme ein, an denen noch Generationen zu kauen haben werden. Es ist wie so oft in der Volksrepublik: Die Regierung vertraut nicht auf organisches Wachstum, gelenkt durch Anreize; sie setzt vielmehr auf atemberaubende Umwälzung durch Edikte von oben. Das verschafft ihr immer wieder Bewunderung der Außenwelt - ebenso oft aber handelt sie sich damit auch gewaltige Probleme ein. Skeptiker warnen schon vor einem neuen "Großen Sprung nach vorne". Mit dem katastrophal gescheiterten Industrialisierungsprojekt hatte Mao Zedong vor mehr als einem halben Jahrhundert versucht, "England zu übertreffen und Amerika einzuholen".

Die Regierung sieht das, einerseits. Die lange erwartete Ausarbeitung des Plans wurde schon mehrmals verschoben, nun wird er für den Herbst erwartet. In dieser Woche berät das Ständige Komitee des Nationalen Volkskongresses darüber. Xu Shaoshi, der Vorsitzende der mächtigen Entwicklungs- und Reformkomission NDRC, sparte am Mittwoch nicht mit Kritik. Wegen des ebenso schnellen wie schludrigen Städteausbaus der Vergangenheit litten viele der neuen Städte unter "Verkehrskollaps, schlimmer Luft- und Wasserqualität und verrotteten Gebäuden".

Das ganze Land steht voller neuer, leerer Retortenstädte

Gebaut wird oft schnell, schlecht und auf Kosten der Umwelt. Premier Li betont deshalb wieder und wieder, man brauche "eine neue Art von Urbanisierung", eine, in der die Planer sich nicht allein darauf konzentrierten, wie man aus Ackerland Bauland macht. Erstmals sollen die Planer, "die Menschen in den Mittelpunkt stellen".

Wie realistisch aber ist das bei dem Tempo? Wie gesagt: Die Regierung will die Marschroute erst im Herbst vorlegen - an Ort und Stelle aber wird längst umgesiedelt und gebaut. Das ganze Land steht voller neuer, leerer Retortenstädte, oft Neubaugebiete am Rand bestehender Metropolen für Hunderttausende Menschen. In Provinzen wie Henan und Anhui werden in großem Stil Bauerndörfer zwangsaufgelöst und die Bauern in Hochhaussiedlungen verpflanzt. Offiziell, um ihnen ein besseres Leben zu verschaffen. "Tatsächlich geht es den Kadern vor allem um das Land der Bauern, das sie dann verkaufen", sagt eine deutsche Wissenschaftlerin.

Das Problem ist nicht nur eines der persönlichen Gier korrupter Beamter, es ist ein strukturelles: Chinas Gemeinden haben kaum Steuereinnahmen. Die Städte und Dörfer sind angewiesen auf den Verkauf von Land, um überhaupt Einnahmen zu haben. Deshalb tritt man allerorten bei den Beamten auf eine Art vorauseilenden Enthusiasmus, wenn es um Urbanisierung geht. Das geht oft auf Kosten sich vergeblich wehrender Bauern, die vielleicht nichts gegen einen Umzug in die Stadt hätten, die sich aber durch die Beschlagnahme ihrer Äcker (gegen eine magere Entschädigung) um ihren Lebensunterhalt geprellt sehen.

Nun werden Modelle diskutiert, bei denen die Bauern in Zukunft per Dividende langfristig am Ertrag ihres Landes teilhaben sollen. Mehr Hoffnung allerdings haben die Signale ausgelöst, wonach die Regierung offenbar bereit ist, eine der größten Ungerechtigkeiten anzugehen: das Hukou- oder Melderegistersystem. Der Hukou bestimmt, wo ein jeder Bürger gemeldet ist. Gleichzeitig teilt er das Volk in zwei Arten von Menschen: jene mit Stadt-Hukou und jene mit Land-Hukou.

Nicht alle Bauern haben die gleichen Rechte wie ihre Nachbarn

Fast alle staatlichen Leistungen - Versicherungen, Rente, Schulzulassungen - sind an den Hukou gebunden. Und weil es für Chinesen mit Land-Hukou praktisch unmöglich ist, sich in der Stadt zu registrieren, hat das Hukou-System eine chinesische Version von Apartheid geschaffen: Ein Wanderarbeiter aus Anhui zum Beispiel kann sich auch nach 20 Jahren nicht in der Hauptstadt Peking für eine Krankenversicherung anmelden oder sein Kind in eine staatliche Schule schicken. Er selbst mag längst ein Städter sein, auf dem Papier bleiben er und seine Kinder ihr Leben lang Bauern. Und so leben mittlerweile zwar 53 Prozent der Chinesen in Städten - aber nur 35 Prozent haben einen Stadt-Hukou. "220 Millionen Chinesen leben schon jetzt in der Stadt, ohne dieselben Rechte zu genießen wie ihre Nachbarn", schreibt das Pekinger Wirtschaftsmagazin Caixin und warnt: "Die Urbanisierung ist an einer Bruchstelle angelangt."

Erstmals sieht es so aus, als habe die Regierung ein Einsehen. NDRC-Chef Xu Shaoshi ließ soeben wissen, die Regierung solle die Hindernisse des Hukou-Systems "schrittweise abbauen, um die ordentliche Umsiedlung der Menschen zu erleichtern." Offenbar plant die Regierung eine allmähliche Aufweichung des Meldekorsetts zuerst in kleinen und mittleren Städten.

Eine Abschaffung des alten Systems wäre nichts weniger als eine Revolution. Die Regierung fürchtet dabei vor allem die Kosten, die eine Ausweitung der städtischen Privilegien auf die bislang mit Niedriglöhnen abgespeisten Zuzöglinge mit sich brächte. "Eine solche Reform wäre tatsächlich teuer", schreibt Caixin. "Aber Nichthandeln käme ungleich teurer. Es braucht nun Mut."

© SZ vom 28.06.2013 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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