Im China Xi Jinpings ist es nicht so einfach, die Taten und Verdienste einzelner Funktionäre zu identifizieren, schon gar nicht, wenn sie im Hinterland arbeiten: Das Wirken Einzelner soll aufgehen im Wirken der Partei und ihres großen Vorsitzenden. Eine Ausnahme aber gibt es: Chen Quanguo. Der 62 Jahre alte Karrierefunktionär ist seit ein paar Jahren der Mann fürs Grobe, er ist derjenige, der für die KP ihre Sorgenkinder unter den ethnischen Minderheiten ruhigstellt: die Tibeter und die Uiguren. Er ist derjenige, der sicherstellen soll, dass sie am besten vergessen, dass sie Tibeter oder Uiguren sind. Und sein Name ist untrennbar verbunden mit der Errichtung eines der größten Lagersysteme der Welt in Chinas Westprovinz Xinjiang und dem Einsatz innovativer Instrumente der Repression. Chen Quanguo ist Parteisekretär der Provinz, seit gerade mal zwei Jahren. In dieser Zeit sind in den von ihm befohlenen Lagern bis zu einer Million Muslime verschwunden.
Die Verwandlung von Chinas Westprovinz Xinjiang in einen Lager- und Hightech-Überwachungsstaat innerhalb kürzester Zeit ist Chen Quanguos Meisterstück. Seine Leistung hat ihm den Aufstieg ins Politbüro der KP eingebracht. Anders als viele andere Spitzenfunktionäre unter Xi ist der im zentralchinesischen Henan geborene Chen kein Abkömmling der roten Aristokratie, er hat sich nach Militärdienst und Studium in der Parteibürokratie hochgearbeitet. All das, was Chen in Xinjiang seit 2016 mit beispielloser Wucht durchexerziert, hat er zuvor schon einmal, wenn auch in kleinerem Maßstab, ausprobiert: in Tibet. Als Parteisekretär von Tibet gelang ihm zwischen 2011 und 2016, woran zuvor andere gescheitert waren: die Auslöschung jeglichen Widerstands. Er brachte alle von der Partei abweichenden Meinungen zum Verstummen.
Er ging dabei so drakonisch wie innovativ vor - vor allem aber war er effektiv. In Tibet teilte Chen erstmals die Bevölkerung in kleine Zellen ein, die jeweils eine eigene Polizeiwache hingestellt bekamen, und deren Mitglieder sich gegenseitig beobachten und denunzieren sollen. Einhunderttausend KP-Kader befahl er hinab aufs Land: Sie zogen in die Dörfer, schliefen bei den tibetischen Familien und in den Klöstern bei den Mönchen. Chen befahl den Beamten, sie müssten "die Stimme der Parteizentrale über 120 000 Quadratkilometer hörbar" machen, und sicherstellen, "dass kein Ton und kein Bild der feindlichen Kräfte und der Dalai-Lama-Clique mehr vernommen werden können". Der tibetische Buddhismus, befand Chen, müsse sich "der sozialistischen Zivilisation" anpassen, Klöster gründeten Parteizellen und hissten die chinesische Flagge. Er stellte vier Mal so viele neue Sicherheitskräfte ein wie sein Vorgänger in der gleichen Zeit.
Die Machtverhältnisse in Peking ließ Chen dabei nie aus dem Auge. Er schmeichelte dem "weisen Führer" Xi Jinping, im Februar 2016 war er einer der ersten hohen Parteikader, die Xi Jinping zum "Kern" der Parteiführung ausriefen. Als seine Delegation wenig später zur Sitzung des Volkskongresses in Peking aufmarschierte, da trugen die Mitglieder Anstecker mit dem Gesicht Xi Jinpings - so etwas ist bis heute in Nordkorea gang und gäbe, in China aber hatte es solchen Personenkult zuletzt unter Mao Zedong gegeben.
Im Sommer 2016 begann Chen seine Arbeit in Xinjiang. Und all das, was er in Tibet ausprobiert hatte, setzte er nun hier um, mit doppelter Wucht und doppelter Geschwindigkeit. Der deutsche Xinjiang-Wissenschaftler Adrian Zenz hat anhand von staatlichen Dokumenten zum Beispiel die Anstellung neuer Sicherheitskräfte in Xinjiang nachverfolgt. Vor Chens Amtsantritt waren 9000 Stellen in einem Jahr ausgeschrieben worden. 2016 dann waren es schon 32 000 und ein Jahr später noch einmal doppelt so viel.
Er hat die chinesische Region mit Polizeiwachen und Sicherheitssperren, mit Überwachungskameras und Netzwerken aus Spitzeln überzogen. Die Menschen werden mithilfe eines Punktesystems eingeteilt in politisch zuverlässig oder potenziell subversiv. Die Moscheen stehen mittlerweile leer, dafür sind die Lager voll. Chen Quanguos Mission lautet auch hier: Die Religion, sofern sie überhaupt noch überleben und sichtbar sein soll, zu "sinisieren". Und mittlerweile fragen sich nicht wenige Beobachter, ob das Modell, das Chen in Tibet und in Xinjiang ausprobiert, nicht eines Tages auf ganz China ausgeweitet wird - und möglicherweise sogar darüber hinaus.