Süddeutsche Zeitung

Wahlen in Chile:Ein Votum für die Geschichtsbücher

Chile stimmt am Wochenende über die 155 Männer und Frauen ab, die eine neue Verfassung ausarbeiten sollen. Sie könnten das Ende der konservativ-liberalen Ära einleiten.

Von Christoph Gurk, Buenos Aires

Wenn junge Chilenen später einmal ihre Geschichtsbücher aufschlagen, wird darin wahrscheinlich auch von diesem Wochenende die Rede sein. Schwer gebeutelt von der Pandemie und einer tiefen gesellschaftlichen Krise, hält das südamerikanische Land an diesem Samstag und Sonntag Wahlen ab. Sie könnten Chile grundlegend verändern, für Jahrzehnte.

14 der 19 Millionen Chilenen sind dazu aufgerufen, Präfekturen, Regionalparlamente und erstmals auch Gouverneure zu wählen. Vor allem aber stimmen die Wähler auch darüber ab, wer einen der 155 Sitze in der Versammlung bekommt, die in den nächsten Monaten eine neue Verfassung ausarbeiten soll.

Die Erwartungen sind groß, aber auch das Risiko. Auf der einen Seite hoffen viele Menschen, dass Chile zu einem sozial gerechteren Land wird, mit mehr Chancengleichheit und Teilhabe, dafür aber weniger Markt und Macht der Unternehmen. Auf der anderen Seite könnten die Veränderungen aber einigen Gruppen zu weit gehen, anderen dafür immer noch zu kurz greifen. Statt die gesellschaftlichen Gräben zu schließen, könnte die neue Verfassung sie sogar weiter aufreißen. Es wäre das traurige Ende eines der größten demokratischen Erfolge, die es in Lateinamerika in den vergangenen Jahrzehnten gegeben hat.

Denn dass überhaupt über eine neue Verfassung geredet wird, ist vor allem den riesigen Demonstrationen von 2019 geschuldet. Entzündet hatten sie sich an einer Fahrpreiserhöhung in der U-Bahn der Hauptstadt Santiago, schnell aber ging es um viel mehr, um kostenlose Bildung, ein gerechteres Gesundheitssystem, höhere Renten, einen sozialeren Staat.

Die Verfassung stammt noch aus der Pinochet-Diktatur

Die Proteste erschütterten Chile ins Mark. Über Jahrzehnte galt das Land als südamerikanischer Musterschüler. Die Wirtschaft wuchs, die Armut sank, glitzernd erhoben sich in Santiago Wolkenkratzer vor dem Bergpanorama der verschneiten Anden. Doch der schöne Schein hatte seine Schattenseiten. Zwar schafften Hunderttausende Familien den Aufstieg in die untere Mittelschicht. Bald hatten sie aber auch das Gefühl, das Ende der Leiter erreicht zu haben - und dies hatte auch mit der Verfassung zu tun.

Sie stammt noch aus der Zeit der Militärdiktatur von General Augusto Pinochet. 1973 hatte er den demokratisch gewählten Sozialisten Salvador Allende aus dem Amt geputscht und damit begonnen, Chile in ein konservativ-neoliberales Musterland umzubauen. Die Märkte sollten sich so frei wie möglich entwickeln, der Staat dagegen nur die absolut notwendige Grundversorgung gewährleisten. 1980 wurde dies in einer Verfassung festgeschrieben.

Auch damals durfte das Volk abstimmen, allerdings in einem Klima der Angst. Auch nach der Rückkehr zur Demokratie Ende der 90er-Jahre blieb die Verfassung fast unverändert in Kraft. Immer wieder gab es Versuche, sie grundlegend zu verändern oder zu ersetzen, vergeblich. Zu groß war der Widerstand aus konservativen Kreisen, zu beschäftigt war das Land mit seinem wirtschaftlichen Aufstieg.

Firmen, Banken und Unternehmen ging es gut, sie waren die großen Profiteure der Verfassung. Selbst die Wasserversorgung ist in Chile privatisiert, zur Freude vor allem der großen Agrarkonzerne. Die Landwirtschaft boomt. Während aber auf der einen Seite die Avocado-Plantagen und Weinreben prächtig gedeihen dank künstlicher Bewässerung, tröpfeln auf der anderen Seite in den Nachbardörfern oft nur noch dünne Rinnsale aus den Wasserhähnen. Immer wieder kam es deswegen zu Protesten: Doch die großen Mehrheiten, die laut der Verfassung für Reformen erforderlich sind, kamen nie zustande.

So ging das über Jahrzehnte: Rente, Krankenversicherung, Bildung - überall gab es Probleme, immer wieder auch Demonstrationen. Am Ende aber blieb alles beim Alten, wie ein Korsett schnürte die Verfassung jedweden Reformen die Luft ab.

Nach Massenprotesten lenkte die Regierung ein

Als 2019 landesweit Proteste ausbrachen, war schnell klar, dass eine der Grundforderungen eine neue Verfassung sein würde. Erst widersetzte sich die Regierung von Präsident Piñera. Der milliardenschwere Unternehmer schickte Soldaten auf die Straße und erklärte, sein Land sei im Krieg. Als die Proteste aber auch nach Wochen und trotz brutaler Polizeigewalt weitertobten, lenkte die Regierung ein. Eine Volksbefragung wurde vereinbart, fast 80 Prozent der Chilenen sprachen sich für eine neue Verfassung aus. Allein: Wie diese aussehen soll, darüber gibt es die unterschiedlichsten Vorstellungen.

Mehr als 2000 Kandidaten bewerben sich nun um einen der 155 Sitze im Verfassungskonvent. Die Besetzung muss paritätisch sein, dazu sind automatisch 17 Sitze für Vertreter der indigenen Gemeinschaften reserviert. In der bisherigen Verfassung kamen sie überhaupt nicht vor. Es gibt viele unabhängige Bewerber, aber auch altbekannte Gesichter aus der Politik, darunter selbst Konservative, die sich zuvor noch vehement gegen eine Verfassungsänderung ausgesprochen hatten.

Spätestens nächstes Jahr im Juni soll die Versammlung ihren Vorschlag präsentieren. Die Zeit ist knapp und die Verantwortung groß. Gleichzeitig wäre eine neue Verfassung aber auch eine historische Chance.

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