Normalerweise haben Staatenlenker keine Probleme mit der Wohnungssuche. Sie leben in prunkvollen Palästen wie der französische Präsident Emmanuel Macron, in schönen Villen wie die neuseeländische Premierministerin Jacinda Ardern, oder sie haben zumindest eine Wohnung in zentraler Lage, so wie Olaf Scholz im Kanzleramt. Es gibt aber auch Ausnahmen, das zeigt der Fall von Gabriel Boric, dem neuen Präsidenten von Chile.
Der bärtige Linkspolitiker erregte kurz vor Weihnachten weltweit Aufmerksamkeit, als er mit seinen gerade einmal 35 Jahren die Wahl im südlichsten Land Lateinamerikas gewann. Jetzt aber diskutieren die Chilenen nicht nur über sein politisches Programm, also über die Umverteilung zwischen Arm und Reich, kostenlose Schulen, ein neues Rentensystem - sie fragen sich auch, wann ihr Präsident endlich eine Wohnung findet.
Chile galt bisher zu Recht als Hochburg des Neoliberalismus, von der Bildung über das Gesundheitssystem bis zur Wasserversorgung ist nahezu alles privatisiert. Wen wundert es angesichts dessen, dass der chilenische Staat nicht über eine offizielle Präsidentenwohnung verfügt? Es gibt zwar den Regierungspalast "La Moneda" im Herzen der Hauptstadt Santiago, dieser ist aber nur als Arbeitsplatz für den Präsidenten gedacht. Und selbst wenn sich dort eine Wohnung einrichten ließe, für den Linkspolitiker Boric wäre das nichts. "Arbeits- und Schlafplatz sollte man trennen", sagte er kürzlich, und seine 32-jährige Freundin Irina Karamanos fügte hinzu: "Wir müssen sehen, dass die Wohnung gewisse Standards erfüllt, aber auf keinen Fall wollen wir es mit den Annehmlichkeiten übertreiben."
Demonstrative Bescheidenheit hat Tradition unter den Galionsfiguren der lateinamerikanischen Linken: Der Uruguayer Pepe Mujica lebte als Präsident weiterhin auf seiner alten Blumenzüchter-Farm und fuhr einen VW Käfer; Mexikos aktueller Staatschef Andres Manuel López Obrador macht es ganz ähnlich und fährt einen klapprigen VW Jetta. Das neue chilenische Präsidentenpaar will die Tradition offenbar weiterführen.
Ginge es nach ihnen, würden sie in ihrem kleinen Appartement im zentralen Stadtteil Bellas Artes bleiben, sagen Boric und Karamanos - doch dabei machen die Carabineros nicht mit. Die chilenische Polizei ist für die Sicherheit des Präsidenten verantwortlich, und deren Oberst Guillermo Benítez legte bereits in den Medien dar, welche Standards eine Präsidentenwohnung unbedingt erfüllen solle: Sie müsse mindestens zwei Ausgänge haben, erklärte Benítez, und dürfe nicht gegenüber von Hochhäusern liegen. Denn das würde es Scharfschützen leicht machen, den Präsidenten ins Visier zu nehmen. Ein führendes Krankenhaus müsse in der Nähe sein, und natürlich solle die Wohnung auch ein wenig Platz bieten - um andere Amtsträger zu empfangen und damit die Personenschützer dort übernachten können.
So ist das Paar nun also auf Wohnungssuche - und hat nicht mehr viel Zeit. Am 11. März soll Boric vereidigt werden. 4,6 Millionen Chilenen haben ihn im Dezember gewählt. Vielleicht ist unter ihnen ja auch ein interessierter Vermieter.