Süddeutsche Zeitung

Chile:Menschenrechte in der Krise

Der Tod eines Fußballfans hat in Chile die landesweiten Proteste neu aufflammen lassen. Innerhalb einer Woche hat es vier Tote und viele Verletzte bei Ausschreitungen gegeben.

Von Christoph Gurk, Buenos Aires

Chile versinkt abermals im Chaos. Vier Menschen sind seit einer Woche bei schweren Ausschreitungen umgekommen. Dutzende wurden verletzt bei Auseinandersetzungen mit der Polizei, ein Beamter erlitt schwere Brandverletzungen, nachdem Demonstranten nach offiziellen Angaben einen Molotowcocktail in ein Einsatzfahrzeug geschleudert hatten. Dazu gab es Angriffe auf mindestens 20 Polizeidienststellen und öffentliche Gebäude. Banken gingen in Flammen auf, genauso wie Busse des öffentlichen Nahverkehrs.

Auslöser der neuen Unruhen war am vergangenen Dienstag ein Spiel des chilenischen Fußballvereins Colo-Colo. Dabei kam es zu Ausschreitungen zwischen Fans des Vereins und Sicherheitskräften. Ein Pferdetransporter der Polizei überfuhr einen 37 Jahre alten Mann. Laut Polizei hatten Fans das Fahrzeug angegriffen, die Scheibe war durch Steinwürfe beschädigt, weshalb der Fahrer nicht mehr richtig habe sehen können. Ein Gericht erklärte, es könne keinen Vorsatz erkennen, der Fahrer blieb auf freiem Fuß, ein Sturm der Entrüstung brach los.

Präsident Piñera hat die Herstellung der öffentlichen Ordnung zur Priorität erklärt

Lateinamerikas Fußballfans sind gut organisiert in einer Mischung aus Ultra- und Hooliganvereinigungen mit teils mafiösen Strukturen, die barras bravas genannt werden, wilde Horden. Nach dem Tod des Colo-Colo-Fans rief die barra des Vereins ihre Mitglieder zu Demonstrationen auf. Es kam dabei zu chaotischen Ausschreitungen. Ein Mann starb, als ein gestohlener Bus ihn überrollte, ein weiteres Opfer erstickte im Rauch eines in Brand gesteckten Supermarkts, und ein 24-Jähriger wurde vor einem Polizeirevier von einem Projektil am Kopf getroffen, er starb zwei Tage später.

Am vergangenen Wochenende kam es nun zu neuen Ausschreitungen beim Fußball. Während eines Spiels in Santiago stürmten wütende Fans das Spielfeld.

Präsident Sebastián Piñera hat die Herstellung der öffentlichen Ordnung zur Priorität erklärt. Seine Umfragewerte sind auf nur noch sechs Prozent Zustimmung gesunken. Es ist aber unklar, wie er die Lage langfristig wieder in den Griff bekommen will.

Wie angespannt die Stimmung ist, haben die Ausschreitungen der letzten Tage gezeigt. Hinzu kommt, dass sich Chile gerade in der Hauptferienzeit befindet. Spätestens Anfang März kommen die meisten Chilenen aus ihrem Urlaub zurück. Dann, so glauben Beobachter, könnte sich die Lage noch einmal verschärfen.

Mehr als hundert Tage sind vergangen, seit es im Oktober zu den größten Massendemonstrationen in der Geschichte des Landes gekommen war. Die Proteste hatten sich an einer Erhöhung der Fahrpreise für den öffentlichen Nahverkehr entzündet. Schnell kamen bei den Demonstrationen weitere, grundsätzlichere Forderungen hinzu, darunter die Abschaffung von Studiengebühren oder eine Reform des Rentensystems, ebenso wie eine neue Verfassung. Zeitweise protestierten täglich mehrere Hunderttausend Menschen in Städten des ganzen Landes. Im Zuge der meist friedlichen Kundgebungen kam es aber auch zu Ausschreitungen. Die rechtskonservative Regierung Chiles reagierte zunächst mit Härte.

Präsident Sebastian Piñera verhängte den Ausnahmezustand. Sicherheitskräfte gingen teils brutal gegen Demonstranten vor. Beobachter registrierten in den folgenden Wochen Dutzende Fälle von Folter, willkürliche Verhaftungen und Vergewaltigungen durch Sicherheitskräfte.

Mehr als 400 Menschen haben teils schwere Verletzungen an den Augen durch Gummigeschosse der Polizei erlitten, eine Zahl, die laut Experten nahelegt, dass Beamte Protestierenden gezielt ins Gesicht geschossen haben. Es gibt Berichte über den Einsatz von hautreizenden Chemikalien in den Tanks von Wasserwerfern, und erst am Freitag erklärte die Interamerikanische Menschenrechtskonvention, die Menschenrechte befänden sich in Chile in einer Krise.

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SZ vom 04.02.2020
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