Chile gilt vor allem in Wirtschaftskreisen als Musterland in Lateinamerika, mit guten Wachstumsraten und stabilen Regierungen. Erst vor wenigen Wochen hat Präsident Sebastián Piñera etwas selbstgefällig gesagt, sein Land sei eine Oase auf dem ins Chaos abgleitenden Halbkontinent. Dieses Äußerung ist ihm jetzt um die Ohren geflogen. Mindestens elf Tote gab es bei heftigen sozialen Protesten am Wochenende. Die Leichen wurden nach Plünderungen in ausgebrannten Supermärkten, einem Baumarkt und einer Textilfabrik gefunden.
Durch die Hauptstadt Santiago de Chile zieht sich eine Spur der Zerstörung. Innenminister Andrés Chadwick sagte, dass es in 70 Städten Gewalttaten gegeben habe, 40 Supermärkte seien geplündert worden, an der U-Bahn in Santiago gab es massive Schäden. Der internationale Flugverkehr kam zum Erliegen, weil der Airport der Hauptstadt gesperrt war. Nach Angaben der Behörden wurden 1500 Demonstranten verhaftet.
Panzer fuhren auf, um die öffentliche Ordnung aufrechtzuerhalten, wie die Regierung mitteilte, es wurde der Ausnahmezustand ausgerufen - bei vielen Älteren weckte diese Militärpräsenz schlimme Erinnerungen an die Diktatur von Augusto Pinochet (1973 bis 1990). Piñeras Äußerungen, man befinde sich "im Krieg" gegen kriminelle Elemente, gab dieser Befürchtung Nahrung, das ähnelte der Wortwahl lateinamerikanischer Diktatoren. Am Samstag ruderte der Präsident zurück und nahm die Tariferhöhung der U-Bahn zurück, die die Proteste ausgelöst hatte. Doch der Zorn vieler Chilenen bleibt.
Wann immer in Chile eine Fahrpreiserhöhung in öffentlichen Verkehrsmitteln ansteht, kommt es zu solchen Auseinandersetzungen. Vor dem rechtskonservativen Piñera musste das schon die linke Präsidentin Michelle Bachelet erleben, deren Reform des Bussystems vor wenigen Jahren zu einem Ausbruch der Gewalt führte.
Fahrpreiserhöhungen sind dabei eher ein symbolischer Anlass. In solchen Momenten bricht sich massiver Unmut über ein Wirtschaftssystem Bahn, das das Recht des Stärkeren betont und das im Kern auf die neoliberalen Reformen Pinochets und seine ideologischen Helfer von der Chicago-Universität zurückgeht. Die chilenische Gesellschaft ist seitdem gespalten in zwei etwa Lager: der eine Teil profitiert vom dauerhaften Wachstum, der andere bekommt davon wenig ab.
In sozialen Netzwerken Chiles machte dieser Tage ein Bild die Runde, das einen Eisberg zeigt. An der Spitze, die aus dem Wasser ragt, steht "Metro". Darunter, auf dem riesigen Rest, sind die Probleme aufgelistet, die sich sozusagen unter der Oberfläche verbergen: Schmale Renten, eine löchrige Gesundheitsversorgung, niedrige Löhne, ein Bildungssystem, das immer noch Privatschulen bevorzugt, hohe Gewaltraten und Skandale in Regierung und Armee, die zeigen, dass die Reichen sich immer noch die Taschen füllen.
Erst Mietsteigerungen, nun der öffentliche Nahverkehr. Die Preise steigen stark, die Löhne nicht
Nach Zahlen der UN-Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik (Cepal) gehören in Chile einem Prozent der Bevölkerung 26 Prozent des Reichtums, während die fünfzig Prozent Ärmsten nur Zugang zu 2,1 Prozent des Reichtums haben. Selbst wer es schafft, der Armut zu entkommen, lebt materiell in einem extrem verletzlichen Zustand. Das sind Werte, die typisch sind für Lateinamerika, weshalb soziale Proteste in den letzten Wochen auch in anderen Ländern eskalierten, etwa in Ecuador oder Argentinien.
Der chilenische Politologe und Radiosprecher Cristóbal Bellolio sagte zur BBC, Chile habe ein strukturelles sozioökonomisches Problem. Es sei kein Wunder, dass es große soziale Ungleichheit gebe, obwohl die Armut sinke. Das Wachstum liegt dieses Jahr bei 2,5 Prozent. Das ist wenig für Chile, aber noch weit über dem Durchschnitt in Lateinamerika. Nach Daten des unabhängigen soziologischen Forschungsinstitutes Fundación Sol in Santiago verdienen 70 Prozent der Bevölkerung weniger als 770 Dollar im Monat - bei einem ähnlichen Preisniveau wie in Europa. Elf der 18 Millionen Chilenen hätten hohe Schulden. Wohnungen im Großraum Santiago sind in den letzten zehn Jahren um bis zu 150 Prozent teurer geworden, während die Löhne nicht annähernd mitgekommen sind.
Vergangenen Monat kündigte die Regierung eine Preiserhöhung beim Strom von zehn Prozent an. Als dann noch die U-Bahn-Preise um durchschnittlich vier Prozent erhöht wurden, brach der Protest los. Besonderen Unmut rief eine Äußerung von Wirtschaftsminister Juan Andrés Fontaine hervor, der sagte, die Leute sollten halt früher aufstehen, dann sei die Fahrt billiger. Am teuersten ist es in der Rushhour. Viele Menschen sind im Ballungsraum Santiago schon jetzt zwei Stunden und mehr zur Arbeit unterwegs. Auf Twitter heißt es unter Chile Despierta (Chile wacht auf): "Es geht nicht um die Fahrpreise, es geht um die Würde."