Süddeutsche Zeitung

Ukraine:Bloß raus hier

Das südukrainische Cherson wurde kürzlich befreit, doch die Bewohner müssen nun trotzdem fliehen. Sie leben in eiskalten Wohnungen, haben kaum Wasser - und die Kämpfe mit den Russen gehen weiter.

Von Tomas Avenarius, Cherson

"Ohne Trinkwasser, ohne Strom, dazu jetzt der Winter. Das schaffen wir einfach nicht", sagt Jewgenija Spiwach. Die Ukrainerin tritt von einem Fuß auf den anderen: "Sie beschießen uns immer heftiger." Es ist nass und kalt vor dem Verwaltungsgebäude von Cherson, die Generatoren summen. Die Motoren erzeugen den wenigen Strom, mit dem die Bewohner der Stadt am zentralen Platz ihre Telefone laden, kurz im Internet surfen, ihre Whatsapp und Telegram-Nachrichten senden können.

Jewgenija Spiwach wartet vor einem großen, grauen Zelt. "Kostenfreie Evakuierung", steht auf der Eingangsplane. Die 57-Jährige hat früher bei einem Reinigungsunternehmen gearbeitet, aber für solche Arbeiten besteht derzeit wenig Bedarf. "Mein Mann und ich, wir wollen erst einmal nach Odessa." Die Spiwachs hatten es über acht Monate unter den russischen Besatzern in Cherson ausgehalten. "Ich könnte heulen, wenn ich daran denke, was sie taten. Und dann die Freude, als unsere Soldaten endlich kamen."

"Mitbürger - ihr seid frei"

Die Kreml-Propaganda haben die Menschen schon in den allerersten Tagen nach der Befreiung heruntergerissen - "Cherson, auf immer russisch" stand auf weiß-blau-roten Postern an Plakatwänden. Jetzt prangt dort in Blau-Gelb eine andere Botschaft: "Cherson, die Heldenstadt" und "Mitbürger - ihr seid frei". Moskaus Armee hatte die südukrainische Stadt in den ersten Kriegswochen eingenommen und nach einem Scheinreferendum annektiert. Cherson war die einzige Provinzhauptstadt überhaupt, die Präsident Wladimir Putin seit Beginn seines Angriffskriegs am 24. Februar hatte erobern können.

Aber nachdem Putins Soldaten sich unter dem Druck der gegnerischen Offensive vor mehr als zwei Wochen auf das andere Ufer des Dnjepr zurückgezogen haben, müssen die Bewohner von Cherson doch fliehen. Die russischen Truppen haben sich am gegenüberliegenden Flussufer eingegraben. Ihr Rückzug verlief halbwegs geordnet, er war offenbar länger geplant. Jetzt beschießt die Artillerie die Stadt.

Am Donnerstag seien sieben Menschen ums Leben gekommen und etwa 20 verletzt worden, erklärten Chersons Behörden. Ein Hochhaus habe Feuer gefangen, ein Geschoss sei auf einem Spielplatz eingeschlagen. "Der heutige Tag ist eine weitere schreckliche Seite in der Geschichte unserer Heldenstadt", schrieb Gouverneur Jaroslaw Januschewytsch im Messenger-Dienst Telegram.

Die Einschläge der Geschütze und Raketenwerfer kommen näher, werden lauter. Aber Jewgenija Spiwach und die anderen Menschen achten kaum darauf. "Sie werden Cherson in Schutt und Asche legen, so wie davor Mariupol", fürchtet Wiktor, ein ukrainischer Unteroffizier, für den die Feinde nur "Orks" und "Russo-Faschisten" sind. "Wie sollen unsere Soldaten hier kämpfen, wenn die Zivilisten zwischen den Fronten stehen?"

Cherson ist schutzlos

Wiktor dürfte Recht haben, die Regierung in Kiew denkt ähnlich und hat die Bewohner zur Evakuierung aufgefordert. Die Ukrainer sind derzeit in der Vorhand, haben die Russen im Süden in die Defensive gedrängt. Die ukrainische Armee bombardiert ihren Gegner am anderen Flussufer ebenso. Aber Cherson ist schutzlos. Und die Versorgung wird immer schwieriger, die Menschen müssen sich ihr Wasser aus öffentlichen Gebäuden holen, an Brunnen, sie tragen Kannen durch die Straßen. In ihren Häusern und Wohnungen ist es eisig kalt. Es gibt keinen Strom und kein Gas.

Der Winter könnte dem Kreml-Chef militärisch in die Hände spielen. Sollte der Krieg über Monate sprichwörtlich einfrieren, gewönnen seine demoralisierten Soldaten Zeit, sich umzugruppieren und aufzustellen, Munition und frische Truppen heranzuschaffen, Offensiven zu planen. "Die Ukrainer haben seit längerer Zeit das Momentum in diesem Krieg", sagte der australische Ex-Generalmajor und Kriegsanalytiker Mick Ryan der Nachrichtenagentur AP. "Sie werden die Initiative kaum verlieren wollen."

Doch wie kann die nächste Offensive aussehen? Bei Cherson ist der Dnjepr an einigen Stellen über einen Kilometer breit. Den Strom mit seinen zerstörten Brücken unter dem Feuer russischer Kanonen zu überqueren, erscheint unrealistisch. Wahrscheinlicher ist es, dass Kiews Militärchef Walerij Saluschnyj an einer anderen Stelle angreift. Er hat seinen Gegner öfter überrascht. Im September hat er ihn im Osten mit einer schnellen Offensive aus der der Region Charkiw vertrieben. Vielleicht werden seinen Truppen aus dem Süden kommen, in der in Teilen noch russisch besetzen Region südlich von Cherson angreifen, wie es Uniformierte andeuten. Dort ist die russische Artillerie schwächer.

Vielleicht hat Saluschnyj doch die Chuzpe, den Fluss zu überqueren, vielleicht plant er auch etwas ganz anderes. Das Militär äußert sich nicht. Aber Moskaus neuer Ukraine-Befehlshaber Sergej Surowikin scheint aus den Niederlagen seiner Vorgänger zu lernen. Surowikin, wegen seiner im Syrien-Krieg bewiesenen Brutalität als "General Armageddon" gefürchtet, lässt 60 Kilometer hinter der Front am Dnjepr neue Schützengräben ausheben, Panzersperren errichten. Das meldete das Britische Verteidigungsministerium. London ist in diesem Krieg immer bestens informiert: Offenbar schafft Surowikin für den Fall eines ukrainischen Durchbruchs eine Auffanglinie.

So ist es klar, dass es rund um Cherson so schnell nicht ruhig werden wird. Jewgenija Spiwach will nun in dem grauen Zelt Plätze für sich und ihren Mann buchen, um aus der Stadt zu kommen. In einem der gelben Linienbusse, die am Stadteingang in kilometerlangen Staus vor den Kontrollposten stehen. Oder mit dem Zug, der seit ein paar Tagen wieder fährt, von und nach Kiew. Walerij Sawun, einer der freiwilligen Helfer im Zelt, der die Daten der Evakuierungswilligen aufnimmt, will bleiben - wie so viele andere in Cherson. Der 60-jährige Sportlehrer sagt: "Ich habe länger als acht Monate ausgehalten. Ich halte weiter durch."

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