Süddeutsche Zeitung

Justiz:Die Richter von Chemnitz verspielen ihre Autorität

Es gibt keinen belastbaren Beweis dafür, dass Alaa S. für den Tod von Daniel H. verantwortlich ist. Das Urteil verstößt gegen einen ehernen Grundsatz: im Zweifel für den Angeklagten.

Kommentar von Ferdos Forudastan

Sollten die Richter von Chemnitz angenommen haben, ihr Urteil gegen den Syrer Alaa S. würde die Wogen glätten, so dürfte ihnen ein Blick ins Netz genügen, um sie vom Gegenteil zu überzeugen. Dort hetzen Rassisten auch nach dem außerordentlich harten Richterspruch ungerührt weiter. Und der anstehende Aufmarsch der rechtsextremen Vereinigung "Pro Chemnitz" an diesem Wochenende wird zeigen, dass die, die Angst und Hass schüren wollen, sich nicht mal von einem Gericht beeindrucken lassen, das gegen einen ehernen Grundsatz verstoßen hat: im Zweifel für den Angeklagten.

Die Zweifel daran, dass Alaa S. vor fast genau einem Jahr in Chemnitz den Deutsch-Kubaner Daniel H. getötet hat, waren während des Prozesses nicht geringer geworden; sie waren gewachsen. Auch wenn der junge Mann am Tatort war, auch wenn bis heute unklar ist, was in jener Nacht geschah, ob nur der ins Ausland geflohene Hauptverdächtige Farhad A. das Opfer attackiert, ob Alaa S. oder ein anderer mitgemacht hat: Es gibt keinen tragfähigen Beweis dafür, dass der nun zu neuneinhalb Jahren Gefängnis verurteilte Syrer schuldig ist.

DNA-Spuren? Fehlanzeige. Der einzige Belastungszeuge? Verstrickt in Widersprüche. Und auch deswegen vollkommen unglaubwürdig, weil er in jener Nacht aus großer Distanz auf das Gewühl von Menschen geschaut hat, in dessen Mitte dann Daniel H. erstochen wurde.

Kein Gericht, das auf sich hält, hätte sich mit einer so fragwürdigen Aussage eines so fragwürdigen Zeugen begnügen dürfen. Keine Richter, deren Leitschnur alleine Recht und Gesetz sind, hätten auf einer so brüchigen Grundlage einen Menschen verurteilen dürfen.

Richter dürfen Entscheidungen nicht daran ausrichten, was in Teilen der Gesellschaft oder der Politik von ihnen erwartet wird

Und wenn Recht und Gesetz nicht der einzige Maßstab der Chemnitzer Juristen waren? Wenn es den Richtern, die dieses Urteil gefällt haben, auch darum ging, jenen den Wind aus den Segeln zu nehmen, die die Tötung von Daniel H. wiederholt missbrauchen, um gegen Menschen mit ausländischen Wurzeln zu hetzen? Was, wenn die Juristen befürchtet hatten, dass gerade jetzt, wo das Verbrechen sich jährt und die Landtagswahl in Sachsen bevorsteht, ein Freispruch Unruhe, mehr noch, Ausschreitungen verursacht und der AfD noch mehr Stimmen als derzeit absehbar eingetragen hätte?

Wäre all das der Fall, hätten die Richter den Beruf verfehlt. Ihre Aufgabe ist es selbstverständlich nicht, Entscheidungen daran auszurichten, was Teile der Gesellschaft oder der Politik von ihnen erwarten. Ihre Aufgabe ist es, die Tat und den Angeklagten im Blick zu haben, sein Handeln zu beurteilen, Recht zu sprechen - und zwar vollkommen unabhängig davon, ob es dem einen ge- oder der anderen missfällt, wie der eine oder die andere darauf reagiert.

Vielleicht wären einem Freispruch von Alaa S. heftige Proteste, ja sogar Straßenschlachten gefolgt. Dass die bisher ausgeblieben sind, dass sie vielleicht auch an diesem Wochenende ausbleiben, kann die Richter aber keineswegs beruhigen. Rechtsextreme wird dieses Urteil nicht zur Umkehr bewegen. Sie finden es sowieso zu lasch. Und Bürger, die diesem Staat und seinen Institutionen ohnehin misstrauen, werden sich nicht von einem Gericht überzeugen lassen, das seine Autorität so verspielt wie das von Chemnitz.

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SZ vom 24.08.2019/saul
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