Wegen des Zusammenbruchs des real existierenden Sozialismus'?
Der Marxismus-Leninismus war für viele Menschen hier die tragende Weltanschauung - auch wenn sie nicht funktioniert hat. Dann war die DDR innerhalb eines Jahres weg und der Marxismus-Leninismus sogar innerhalb von einigen Wochen.
Im Grunde haben zwei Dinge die so gerissene Lücke gefüllt: Das Erste war der Neoliberalismus, der den Einzelnen auf sich selbst zurückführt und sagt: Du musst dich nur genug anstrengen, damit du in dieser Wettbewerbsgesellschaft bestehst. Aber wo immer der Gewinner gesucht wird, wird der Verlierer produziert. Das liegt in der Natur eines solchen Gesellschaftskonstrukts. Das hat im Osten zwangsläufig neue Frustrationen erzeugt.
Und was war das Zweite?
Der Nationalismus. Der bedient Zugehörigkeit, Anerkennung und Wertschätzung. Und niemand kann leben ohne diese drei Dinge. Aufgrund der schwierigen Transformation und der weltanschaulichen Erschütterung durch den Verlust des Marxismus-Leninismus war der Nationalismus besonders erfolgreich.
Was wir auch nicht vergessen sollten: Teile von Ostdeutschland, auch Teile Sachsens, gehören eher zu Ost- als zu Westeuropa. In vielerlei Hinsicht tickt Sachsen kulturell und politisch mehr wie Polen oder Ungarn. Das müssen wir einfach zur Kenntnis nehmen.
Kann es sein, dass es auch an jungen Leuten fehlt, die sich gegen Rechts engagieren würden?
Ja. Wir hatten nach 1990 einen gewaltigen Bevölkerungsverlust im Osten. Und auch vorher sind schon viele der politisch, technisch oder wirtschaftlich Engagierten nach Westen gegangen. Die Sozialwissenschaften sagen tatsächlich, dass sich die, die zurückgeblieben sind - und sich zurückgelassen fühlen - eher von Rechten verführen lassen. Das finden Sie auch in ländlichen Regionen Frankreichs oder bei der Brexit-Entscheidung in Großbritannien.
Alle diese Phänomene kommen im Osten Deutschlands zusammen, sie addieren sich gewissermaßen. Wenn man das berücksichtigt, lässt sich vielleicht besser begreifen, wieso manche Menschen im Osten heftiger auf die Entwicklungen reagieren als im Westen.
Was lässt sich tun, um Auseinandersetzungen wie jetzt in Chemnitz zu verhindern?
Ich habe 2011 und 2012 die Arbeitsgruppe "13. Februar" in Dresden moderiert, nachdem es beim Gedenken an die Bombardierung 1945 zu Auseinandersetzungen zwischen Neonazis, Linken und anderen Gruppen gekommen war. Um zu klären, wie man mit diesem Tag am besten umgeht, habe ich ein Jahr sehr intensiv mit der Stadt, mit verschiedenen Verbänden, Vereinen, Fraktionen, Religionsgruppen gearbeitet.
Meine wichtige Erkenntnis daraus lautet: Der innere Frieden einer Stadt muss täglich erarbeitet werden, an runden Tischen, über Informationsveranstaltungen und so weiter. Für eine Stadt muss eine soziale, politische und ethische Infrastruktur genauso geschaffen werden wie eine ökonomische und technische Infrastruktur. Dann kann eine Stadtgesellschaft stark genug sein, um an Tagen wie jetzt in Chemnitz in der Lage zu sein, schnell und aktiv zu reagieren, gewaltlos und konstruktiv.
Ich war übrigens in der DDR selbst auch ein Wutbürger. Ich war wütend auf diesen Staat und habe mich an der friedlichen Revolution beteiligt. Wir konnten unsere Wut aber kanalisieren, in eine konstruktive Kraft umwandeln. Wenn die Wut aber von politischen Rattenfängern in eine falsche Richtung geleitet wird, wird sie zu Hass.
Frank Richter gehörte zu den Bürgerrechtlern in der DDR. Der Theologe war Geschäftsführer der Stiftung Frauenkirche in Dresden und Direktor der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung. Richter ist aus der CDU ausgetreten und strebt derzeit als parteiloser Kandidat das Amt des Oberbürgermeisters der Stadt Meißen in Sachsen an. Unterstützt wird er dabei von der Initiative "Bürger für Meißen - Meißen kann mehr", den Grünen, den Linken und der SPD. Demnächst erscheint sein Buch "Hört endlich zu!"