Europäische Kulturhauptstadt:Wie Sven Schulze versucht, Chemnitz zusammenzuhalten

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Er empfängt gerade viele Gäste: der Chemnitzer Oberbürgermeister hier im Mai mit dem amerikanischen Generalkonsul für die Bundesländer Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen. (Foto: Uwe Meinhold/Imago)

Chemnitz wird europäische Kulturhauptstadt. Oberbürgermeister Sven Schulze hat jetzt was zu tun: sowohl die Republik als auch die eigenen Bürger für die Stadt zu begeistern.

Von Iris Mayer

Man könnte euphorisch sein vor einem Festjahr, das die eigene Stadt so hell und bunt strahlen lassen soll wie selten zuvor. Man könnte nervös sein, wenn am Eröffnungswochenende die halbe Staatsspitze anreist und ganz Europa zuschaut, was für eine Kulturhauptstadt dieses Chemnitz sein wird. Sven Schulze, der Oberbürgermeister, entscheidet sich für einen Blick in die Wettervorhersage. „Keine Extremwetterverhältnisse zu erwarten“, sagt er. Mehr Chemnitz geht nicht.

Wenn am Wochenende die Party zur Eröffnung der europäischen Kulturhauptstadt über die Bühne geht und Zehntausende Gäste und Chemnitzer zusammen feiern, dann soll die Republik das freundliche, weltoffene und innovative Gesicht dieser Arbeiterstadt kennenlernen. „C the Unseen“ – das Ungesehene sehen, heißt das Motto – und möglicherweise gilt dieser Appell für die Chemnitzer sogar noch mehr als für ihre Gäste. Die ahnen ja gar nicht, welche Expressionisten-Schätze in den städtischen Gemäldegalerien lagern, wie der sächsische Lokomotivkönig Richard Hartmann Industriegeschichte schrieb und dass Schauspieler wie Ulrich Mühe, Peter Kurth oder Corinna Harfouch ihr Handwerk am Chemnitzer Schauspielhaus lernten. Die Chemnitzer wissen all das natürlich, ärgern sich vor der Eröffnung aber erst mal über morsche Sitzbänke im Zentrum. „Empfängt Chemnitz so seine Besucher?“, fragte die Regionalzeitung Freie Presse diese Woche leicht genervt.

Einmal wichtiger sein als Leipzig oder Dresden

Der Sozialdemokrat Schulze kennt das. Dass das erfolgreichste ostdeutsche Start-up die Softwarefirma Staffbase ist, wüssten viele. „Aber 99 Prozent der Chemnitzer haben keine Ahnung, dass die aus ihrer Stadt kommt“, erzählt er der Süddeutschen Zeitung gut gelaunt im Rathaus. Der 53-Jährige hofft, dass sich das im Kulturhauptstadtjahr ändert, die Chemnitzer freundlicher auf eigene Stärken schauen und die Besucher die kleinste unter den drei sächsischen Großstädten endlich auf der Agenda haben. „Wir haben immer gestöhnt, wenn so viel über Leipzig und Dresden geredet wurde, aber langsam stöhnen die über uns.“

Dass Chemnitz Anfang des 20. Jahrhunderts mal die reichste Stadt Deutschlands war, mag man heute kaum glauben. Wie an wenigen Orten sonst sieht man hier die Brüche des letzten Jahrhunderts: kaputt gebombt im März 1945, als sozialistische Musterstadt wiederaufgebaut, im Zentrum thront das 40-Tonnen-Monument von Karl Marx (Volksmund: dor Nischel). Nach der Wende kehrten 50 000 Einwohner ihrer Stadt den Rücken, fanden anderswo Jobs und Glück. Heute leben hier 250 000 Menschen. Auch wegen solcher Brüche ist Chemnitz für Schulze eine osteuropäische Stadt in einem westeuropäischen Land. „Wir sind schneller in Prag als in Berlin.“

Wendekind und Kaufmann

Wenn es gut läuft in diesem Jahr, sagt Schulze, bekommt das Bild von Chemnitz viele bunte Einsprengsel. „Denn wir sind mehr als die Ausschreitungen von 2018.“ Damals marschierten Neonazis aus der gesamten Republik auf, nachdem ein Mann am Rande des Stadtfests in einer Auseinandersetzung mit zwei Flüchtlingen erstochen wurde. Die Bilder schafften es bis auf die Titelseite der New York Times – und in die Bewerbungsmappe zur Kulturhauptstadt. Der Zivilgesellschaft auf die Beine helfen, auch dafür soll dieses Jahr in Chemnitz gut sein.

Schulze nennt sich selbst ein Wendekind, hat 1990 den ersten Schülerrat an seinem Gymnasium gegründet und ist in die SPD eingetreten. Als Diplomkaufmann arbeitete er lange für einen Energieversorger, wechselte erst mit Mitte 40 in die Politik. 2015 wurde er Finanzbürgermeister, im Oktober 2020 wählten ihn die Chemnitzer mit 34 Prozent zum OB. Seit den Kommunalwahlen voriges Jahr ist die AfD stärkste Fraktion im Stadtrat. Es sei schwerer geworden, die Dinge zusammenzuhalten, sagt Schulze: „Es ist ein täglicher Kampf.“ Und natürlich, er hat auch Sorge, weil Rechtsextreme für Samstag eine Demonstration angemeldet haben, aber: „Ich glaube an die Kraft der guten Bilder.“

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