Süddeutsche Zeitung

Chemnitz:Die aktuelle Zuwanderungsdebatte spielt den Rechten in die Hände

Politiker, die die Augen vor rechter Hetze verschließen und mit der Angst vor Migration Stimmung machen, gefährden den gesellschaftlichen Frieden in Deutschland.

Kommentar von Ferdos Forudastan

Nein, "ungeheuerlich" ist kein origineller Begriff. Aber auf die Causa Chemnitz passt er wie wenige andere. Ungeheuerlich ist, dass Rechtsextremisten zusammen mit bis dahin politisch unauffälligen Bürgern Jagd auf Menschen machen, die sie für Zugewanderte halten; dass die Polizei nicht nur von der ersten Zusammenrottung am Sonntag überrascht wird, sondern dass sie auch die zweite, am Montag, grob unterschätzt; dass wiederholt zu wenige Beamte vor Ort und kaum wehrhaft sind; dass die AfD nahezu unverhohlen Verständnis für die Angreifer signalisiert und diese damit indirekt bestärkt; dass der sächsische Ministerpräsident sich bisher am Ort der Ausschreitungen nicht hat blicken lassen; dass der Bundesinnenminister, die unzweideutigen Bilder von der Hatz vor Augen, fast zwei Tage und gehörigen öffentlichen Druck braucht, um das Geschehen in Chemnitz zu kommentieren.

All das ist ungeheuerlich - und bleibt es auch dann, wenn sich erhärtet, dass es ein Syrer und ein Iraker waren, die am Sonntag die Übergriffe ausgelöst haben, indem sie einen Mann erstachen. So ein Verbrechen rechtfertigt Sorge, ja Wut. Es rechtfertigt aber nicht, tatsächliche oder vermeintliche Flüchtlinge zu jagen, den Angreifern mit einer mangelhaften Polizeitaktik zu begegnen, den Rechtsextremismus kleinzureden oder gar zu ignorieren.

Dafür, was nach dem mutmaßlichen Totschlag geschehen ist, gibt es keine Rechtfertigung. Ein Mob, der meint, das, was er unter Recht versteht, in die eigene Hand nehmen zu müssen und der dabei erst mal nicht gebremst wird; Sicherheitsbehörden, die den Eindruck erwecken, dass sie die Sicherheit der Bürger nur schwerlich garantieren können; verantwortliche Politiker, die trotz der Ereignisse dieser Tage, trotz heftiger Ausschreitungen gegen Flüchtlingsunterkünfte in den vergangenen Jahren, trotz einschlägiger Hetze und Hass im Internet vor der braunen Pest die Augen verschließen - sie sind nichts weniger als eine Gefahr für den gesellschaftlichen Frieden und für die Demokratie.

Was die Ereignisse von Chemnitz zwingend nach sich ziehen müssten, ist ein Kurswechsel auf ganz verschiedenen Feldern. Da gilt es zunächst, sich der Tatsache zu stellen, dass ein Land wie Sachsen massive Probleme mit dem Rechtsradikalismus und dem Rechtsextremismus hat. Wer das wie diese und wie frühere Landesregierungen und wie manche Bundespolitiker weitgehend ausblendet, der trägt, auch wenn er das partout nicht möchte, zum Erstarken der Rechten bei.

Außerdem gilt es, sich noch viel intensiver als bisher wissenschaftlich und politisch mit Ursachen für den Erfolg rechten Gedankenguts, für Rassismus und Nationalismus nicht nur, aber vor allem im Osten, besonders in Sachsen, auseinanderzusetzen - und mit der Frage, was sich gegen diese Phänomene unternehmen ließe. Dagegen etwa, dass nicht wenige Menschen sich noch immer abgehängt fühlen, dass viele den Westen und seine Bürger als überheblich empfinden, dem politischen System und seinen Repräsentanten zutiefst misstrauen, dass sie deutlich anfälliger sind für die Propaganda der AfD - einer Partei, die nicht nur ausgesprochen milde Worte für die Menschenjäger von Chemnitz gefunden, sondern sich verhalten hat wie deren parlamentarischer Arm. Diese Partei gibt übrigens nicht nur in diesen Tagen, aber da ganz besonders, Anlass, ihre Beobachtung durch den Verfassungsschutz verschärft in Betracht zu ziehen.

Die bisherige Art der Diskussion über Flucht und Vertreibung stärkt die Rechten

Allerdings: Auch wenn Chemnitz endlich den Blick verantwortlicher Politiker für die Gefahr von ganz rechts schärfen würde - sie wären damit noch nicht aus dem Schneider. Sie müssten viel mehr als bisher tun, um die Sicherheitsbehörden personell zu stärken, um sie in die Lage zu versetzen, braune Umtriebe wesentlich früher zu erkennen - und sie zu bannen.

Und schließlich, ganz wichtig, muss ein Kurswandel in der Debatte um Flucht und Migration her. So wie auch ein Teil der etablierten Politik seit Jahren über dieses Thema diskutiert, spielt er, wenngleich ungewollt, den Kräften in die Hände, die in Chemnitz und anderswo ihr Unwesen treiben. Eine CSU etwa, die immer wieder das Schreckensbild eines Landes an die Wand malt, das der Asylsuchenden nicht mehr Herr werden kann, das seine Grenzen überhaupt nicht mehr zu schützen vermag, trägt dazu bei, die Sorgen der Bürger, derer sie sich angeblich annimmt, zu vergrößern.

Wer in dieser oder in anderen Parteien davon spricht, dass eben wegen der Zuwanderung der Rechtsstaat nicht mehr funktioniere; wer behauptet, Migration und ihre Folgen zögen rechtsfreie Räume nach sich; wer im Zusammenhang mit der Zuwanderung gar das große Wort vom Staatsversagen im Munde führt, der stärkt, wenn auch unabsichtlich, denen den Rücken, die sich in Chemnitz und anderswo an die Stelle des Staates setzen wollen.

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SZ vom 29.08.2018/bix
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