Bundesregierung:Die Krawalle von Chemnitz offenbaren ein gespaltenes Kabinett

Franziska Giffey und Horst Seehofer gehören zur selben Koalition, zur selben Regierung. Aber ihr Umgang mit Chemnitz zeigt politische und persönliche Unterschiede, die größer nicht sein könnten.

Von Stefan Braun, Berlin

Regierungen ziehen an einem Strang? Kabinette sprechen die gleiche Sprache? Minister bemühen sich in Krisenmomenten, Hand in Hand zu marschieren? Das klingt vernünftig; es klingt logisch, und man würde daran gerne besonders glauben, wenn Rechtsextreme das Land herausfordern. Trotzdem ist es eine Illusion, jedenfalls in der Regierung von Angela Merkel.

Nach dem gewaltsamen Tod eines Deutschen in Chemnitz, an der sich heftige Auseinandersetzungen, Demonstrationen und rechtsradikale Aufmärsche anschlossen, zeigen Franziska Giffey und Horst Seehofer, dass die schöne Theorie nicht viel wert ist, wenn es ernst wird. Die Familienministerin und der Bundesinnenminister haben in den vergangenen Tagen demonstriert, dass sie in einer Krise sehr unterschiedlich denken, fühlen und handeln.

Die Familienministerin Giffey reiste wenige Tage nach Beginn der Probleme nach Chemnitz; der Innenminister blieb lieber zu Hause. Die Sozialdemokratin trat in Sachsen auf, zeigte ihren Schmerz über den Tod des 35-jährigen Deutsch-Kubaners und legte ihre Sorge über die Rechtsextremisten offen; der Christsoziale Seehofer mochte auf all das lieber verzichten. Giffey wollte vor Ort wissen, wie die Menschen alles erlebt haben; Seehofer tat das alles nicht, aber erklärte aus der Ferne, ohne einen direkten Augenschein solle man über die Ereignisse nicht urteilen.

"Da muss die Regierung einfach da sein"

Am Mittwoch und Donnerstag ist außerdem deutlich geworden, dass nicht nur das Handeln anders ist, sondern auch die Sprache. Giffey legte bei ihrem Besuch in Chemnitz Blumen an der Stelle nieder, an der der Mann wenige Tage zuvor erstochen worden war. Sie zeigte Mitgefühl so, dass die Menschen es sehen und spüren können. Und sie sagte dazu Sätze wie diesen: "Es wäre gut, wenn auch andere Mitglieder der Bundesregierung vor Ort Gesicht und Stimme zeigen würden."

Am Tag zuvor fuhr sie ins thüringische Themar - ein kleiner Ort mit 3000 Einwohnern, den rechtsextreme Gruppen seit Monaten immer wieder als Aufmarschgebiet nutzen und in Beschlag nehmen. Giffey zeigte sich, sie war seit Jahren die erste prominente Politikerin, die dorthin kam. Und sie hörte Menschen zu, die einfach nur Angst haben. Anschließend forderte sie ein Gesetz zur Förderung der Demokratie und erklärte: "Es gibt Momente, da passieren Dinge in Deutschland, da muss die Regierung einfach da sein."

Horst Seehofer hat das alles vielleicht mitbekommen. Gemacht aber hat er: nichts. Jedenfalls nichts, was erkennbar gewesen wäre. Nichts für die Angehörigen des getöteten 35-Jährigen. Nichts für die Menschen, die Angst vor den Rechtsextremen haben. Nichts für die Menschen, die deren Aufmärsche beobachten oder tolerieren, weil sie sich vom Staat verlassen fühlen.

Die zwei Antipoden im Kabinett

Stattdessen ist Horst Seehofer am Mittwoch und Donnerstag nach Neuhardenberg gefahren, ins dortige Schloss, um mit seiner CSU-Landesgruppe zu sprechen, die im Bundestag sitzt. Und weil ihm das in diesem Zusammenhang unvermeidlich schien, sagte er hier, im Schlösschen, fernab des Geschehens, dass er - wäre er nicht Minister - auch auf der Straße in Chemnitz demonstriert hätte. Eine feine, wahrscheinlich nicht beabsichtigte Umkehrung dessen, was Giffey gemacht hat. Er hätte sich lieber den Protesten angeschlossen, während sie hingefahren ist, als alle Seiten in Not waren.

Doch nicht nur das: Danach hat Seehofer auch noch den Satz geprägt, die Migrationsfrage sei "die Mutter aller Probleme". So gut und richtig und passend fand er seine Formulierung, dass er sie nicht nur intern verwendete, sondern im Interview mit der Rheinischen Post auch noch wiederholte. Drum herum erklärte er, natürlich sei die Tat von Chemnitz keine Rechtfertigung für rechtsradikales Gedankengut und das Zeigen des Hitlergrußes (was Demonstranten in Chemnitz getan hatten). Hängen blieb irgendwie trotzdem vor allem ein Satz: "Die Migrationsfrage ist die Mutter aller Probleme."

Damit ist klar, wo Seehofer sich verortet: Die Flüchtlinge, ihre Ankunft, ihre teilweise schwierige Integration - sie sind der Hauptgrund für Deutschlands Probleme. Das Argument genau in dieser Verkürzung kennt man. Die AfD erklärt das genauso.

Seehofer beruhigt damit nichts, er kittet nichts, er führt keine Menschen zusammen. Selbst wenn er es wollte, hat so ein Satz die Wucht, um seine wohlgeformten Nebensätze zu überspülen. Die Migration, die Migranten, die Flüchtlinge, die Zugewanderten sind schuld - ob er wirklich nicht spürt, in welcher Reihung er sich da befindet?

Sie will zusammenführen, er spaltet

Giffey und Seehofer - sie sind die Antipoden in einem Kabinett, das bis heute seine Linie sucht. Unterschiedlicher kann man nicht auftreten. Die Sozialdemokratin zeigt Empathie; der CSU-Chef demonstriert Härte. Giffey will zusammenführen; Seehofer spaltet. Dass das ein und dasselbe Kabinett sein soll, ist kaum für möglich zu halten.

Damit zeigen sich komplett andere politische Charaktere. Hier die Sozialdemokratin Giffey, erst seit Kurzem Bundesministerin, davor aber mitten drin in dem, was man einen klassischen Problemkiez nennt: Giffey arbeitete als Bezirksbürgermeisterin von Berlin-Neukölln; einem Stadtteil mit gut 300 000 Einwohnern. Sie kennt die Probleme der Migration und der Integration, der sozialen Sorgen von Zugereisten wie Einheimischen. Und sie hat für sich daraus offenkundig eine Lehre gezogen: Ich muss den Menschen nahe sein, ich muss verstehen wollen, und ich muss Brücken bauen, so oft es geht.

Seehofer ist so etwas wie das politische Gegenteil. Ein Lokalpolitiker ist er nie gewesen, und als Kümmerer hat er sich sehr gerne gegeben, solange er im Bundestag vor allem als Sozialpolitiker firmierte. Aber mehr hat ihn mindestens in den vergangenen 20 Jahren beschäftigt, mit welchen politischen Botschaften und Zuspitzungen er seiner CSU Zuspruch sichern könnte. Er ist als bayerischer Ministerpräsident vor allem ein Mann der Ziele und Überschriften gewesen - und das hat sich seit seinem Zorn über Angela Merkels Flüchtlingspolitik nicht mehr abgeschwächt, sondern verschärft. Sie da unten, er da oben - auch wenn Seehofer das vehement bestreiten würde, kann man Giffey und Seehofer im Fall Chemnitz in dieses Raster stellen.

Nun könnte man am Ende an die Richtlinienkompetenz der Kanzlerin erinnern. Und Angela Merkel sagte am Donnerstag tatsächlich etwas: "Ich sage das anders. Ich sage, die Migrationsfrage stellt uns vor Herausforderungen. Und dabei gibt es Probleme, aber es gibt auch Erfolge." Differenzieren soll das und beruhigen statt aufzuheizen. Helfen wird es diesem Kabinett, dieser Regierung, dieser Koalition trotzdem kaum. Ausgerechnet da, wo es ums Fundament dieser Gesellschaft geht und um den Kerngedanken unseres Grundgesetzes, fühlen und agieren Mitglieder des gleichen Kabinetts, als lebten sie in zwei Welten.

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