Chemiewaffen:"Eine Form von Staatsterrorismus"

Der Einsatz von Chemiewaffen nimmt zu - ein Interview mit dem Chemiewaffen-Experten Oliver Meier.

Eine Einsatzhelferin betritt ein Dekontaminations-Zelt bei einer Anti-Terror-Übung auf einem Trainingsgelände in Berlin.

(Foto: picture alliance/AP Photo)

Die Welt erlebt vermehrt Giftanschläge, obwohl diese durch eine UN-Konvention seit 1997 verboten sind. Chemiewaffen-Experte Oliver Meier spricht über die Ursachen - und darüber, was man dagegen tun kann.

Von Cristina Marina

Ost-Ghouta, Khan Sheikhun, Kuala Lumpur, Salisbury, Duma - Chemiewaffenanschläge nehmen in letzter Zeit zu. Verheerend ist das nicht nur für die Menschen in den betroffenen Gebieten, sondern auch für das internationale Staatengefüge. Die Attacken heben mitunter Konflikte auf eine neue Eskalationsstufe, wie etwa der Fall Skripal zeigt. Oliver Meier befasst sich mit dem Phänomen, er ist Experte für Sicherheitspolitik und Chemiewaffen am Deutschen Institut für Internationale Politik und Sicherheit in Berlin.

SZ: Herr Meier, lassen sich solche Angriffe gut nachweisen?

Oliver Meier: Im Prinzip ja, weil diese Kampfstoffe noch einige Zeit vor Ort verbleiben. Es hängt aber stark von der Art dieser Stoffe ab, und auch davon, ob dabei Menschen geschädigt worden sind. Denn die Wirkung kann man an den Opfern nachweisen, zum Beispiel über Biopsien. Wenn das nicht möglich ist, zum Beispiel, weil man keinen Zugang zu den Einsatzorten oder zu den Betroffenen hat, versucht man, Menschen übers Telefon zu erreichen und Luftaufnahmen der betroffenen Gebiete oder Informationen, die über die sozialen Medien verbreitet werden, auszuwerten. Wenn man dann alle Informationen vergleicht, erkennt man, wie belastbar die Berichte sind: Wenn alle Puzzlestücke gut zusammenpassen und keine Widersprüche auftauchen, kann man mit hoher Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass ein solcher Angriff stattgefunden hat. Je größer der Angriff, desto mehr Puzzlesteine hat man - und damit auch mehr Anhaltspunkte für die Untersuchung.

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Wie sicher lässt sich überhaupt bestimmen, woher die Substanzen stammen?

Das hängt von der Art der Probe ab. Wenn man selbst im Besitz von Proben des Kampfstoffes ist, die bestenfalls kurz nach dem Einsatz genommen worden sind, dann gibt es durchaus Merkmale, die Schlüsse über die Herkunft zulassen. Solche Merkmale sind zum Beispiel bestimmte Bestandteile oder Mischungsverhältnisse von Stoffen, die typisch sind für die Produktion in einem bestimmten Land oder sogar in einer bestimmten Anlage. Das ist dann besonders einfach, wenn man noch Vergleichsproben hat. So konnte man zum Beispiel nachweisen, dass der Chemiewaffenangriff vor einem Jahr in Khan Sheikhun mit Sarin ausgeführt wurde, wie es auch die syrischen Streitkräfte vorrätig hatten.

War im Fall Skripal die Wahrscheinlichkeit hoch, verlässliche Schlüsse ziehen zu können?

Ja, zumindest im Hinblick auf die Art des verwendeten Nervengifts, denn da hatte man nicht nur schnell Zugang zu den Opfern, sondern man konnte an verschiedenen Orten auch direkte Proben nehmen: dort, wo das Gift ausgebracht worden ist, und wo Rückstände gefunden sind.

Reicht das, um den Angreifer genau festzulegen?

Das ist eine Frage, die schwer zu beantworten ist, weil wir nicht alle Informationen haben. Es gibt geheimdienstliche Erkenntnisse, die nicht offengelegt worden sind. Es geht also um einen Indizienbeweis, aber einen, der nach Argumentation der britischen Regierung so viele Hinweise zusammenführt, dass Russland als Verantwortlicher genannt werden konnte.

In Syrien wurden in den vergangenen fünf Jahren mindestens dreimal Nervenkampfstoffe wie Sarin eingesetzt, andere Kampfstoffe wie Chlorgas kamen nach Einschätzung des US-Verteidigungsministers Mattis schon "Hunderte Male" zum Einsatz. Wie konnte es dazu kommen - trotz des Verbots durch die Chemiewaffenkonvention?

Es macht keinen Unterschied, ob Sarin oder Chlor eingesetzt wurde. Es gibt auch keine Liste der verbotenen Stoffe. Jeder Einsatz, bei dem die toxische Wirkung von Chemikalien zu nicht friedlichen Zwecken genutzt wird, ist verboten. Die Frage der Motivation ist schwierig zu beantworten. In einigen Fällen gilt als erwiesen, dass es sowohl die syrische Regierung als auch der Islamische Staat waren, die diese Einsätze angeordnet haben. Im ersten Fall ist es eine Form von Staatsterrorismus, dass eine Regierung gegen die eigene Bevölkerung Chemiewaffen einsetzt. Es ging manchmal um die Vorbereitung von Bodenoffensiven - 2013 in Ghouta, 2017 in Khan Sheikhun und jetzt in Duma - durch Truppen der syrischen Streitkräfte, die entsprechende Gebiete einnahmen. Man kann also davon ausgehen, dass ein militärischer Nutzen da war. In anderen Fällen, insbesondere wenn Chlorgas eingesetzt wurde, wollte man sicherlich die Menschen verängstigen, dem Gegner Schaden zufügen und so auch seine Ressourcen binden, etwa weil die Versorgung der Opfer aufwendig ist.

Wie oft wurde diese Kampfstoffe überhaupt eingesetzt, seitdem das Chemiewaffen-Übereinkommen 1997 unterzeichnet wurde?

Sehr selten. Die Waffen sind umfassend geächtet und verboten. Fast alle Staaten haben auf Chemiewaffen verzichtet und abgerüstet. Nur Nordkorea, Israel, Ägypten und der Südsudan haben das Übereinkommen nicht unterzeichnet. In jüngster Vergangenheit haben wir drei Fälle erlebt: letztes Jahr den tödlichen Angriff auf den Halbbruder des nordkoreanischen Staatschefs Kim Jong-un, den aktuellen Angriff gegen Sergej und Julia Skripal und seit 2012 immer wieder den Einsatz von Chemiewaffen im Kontext des syrischen Bürgerkrieges. Die drohende Gefahr ist, dass der Eindruck entsteht, dass Chemiewaffen durchaus nützlich sein können, wenn es darum geht, bestimmte Zwecke zu erreichen.

Gab es Folgen oder sind die Verantwortlichen immer davon gekommen?

Es gab natürlich politische und auch militärische Reaktionen. Gesehen haben wir: den Militärschlag der USA vor einem Jahr auf den Luftwaffenstützpunkt Shairat, die Verhängung von Sanktionen gegen Russland, und auch verschiedene Untersuchungen zur Aufklärung der Umstände. Was wir bisher nicht sehen, ist ein Beschluss des Sicherheitsrates, um den Internationalen Strafgerichtshof in die Lage zu versetzen, die Verantwortlichen auch strafrechtlich zu verfolgen. Das ist ein sehr kritischer Punkt, denn der Einsatz von Chemiewaffen ist ein Kriegsverbrechen und in dem Statut des Internationalen Strafgerichtshofs auch als solcher genannt. Doch Syrien selbst ist dem Strafgerichtshof nicht beigetreten, hat das Statut nicht gezeichnet. Also bräuchten wir den Beschluss des Sicherheitsrates, um Ermittlungen aufnehmen zu können. Wegen der politischen Spaltung des Sicherheitsrates war das bisher nicht möglich, so dass tatsächlich der Eindruck entstehen kann, dass die Verantwortlichen strafrechtlich nicht belangt werden. Das ist für die Ächtung dieser Waffen ein großes Problem, gerade im Hinblick auf mögliche Nachahmer.

Der damalige US-Präsident Obama hat 2013 eine "rote Linie" gezogen, der aktuelle Präsident Trump droht mit einem weiteren Militärschlag, die EU hat nach dem Fall Skripal russische Diplomaten ausgewiesen. Welche Sanktionen halten Sie für angemessen? Und wer soll sie verhängen?

Wichtig ist zunächst, dass der Einsatz solcher Waffen keine Normalität wird. Er muss jedes Mal zu Reaktionen der Staatengemeinschaft führen. Am besten wäre es natürlich, wenn die internationale Staatengemeinschaft - wie 2013 - in großer Einigkeit darauf hinwirkt, dass die Chemiewaffen abgerüstet werden. Zwar wissen wir heute, dass in Syrien nicht alle Waffen vernichtet worden sind, aber ein Großteil schon. Das war nur möglich, weil 2013 nicht nur die USA und Russland sondern auch viele andere Staaten diese Entscheidung mitgetragen haben. Davon sind wir heute leider sehr weit entfernt. Ein weiterer Grund zur Sorge: Die Diskussion um die Chemiewaffeneinsätze ist inzwischen extrem politisiert; einige der Mechanismen, die wir international haben, um diese Einsätze zu untersuchen und die Verantwortlichen dingfest zu machen, sind geschwächt worden. Vor allem durch Russland, das dies im Sicherheitsrat blockiert. Das ist ein Rückschritt in der Chemiewaffenkontrolle.

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