In Detmold wurde im Juni 2016 ein weiterer SS-Mann aus Auschwitz wegen Beihilfe zum Mord schuldig gesprochen. Bei ihm ging der Tatvorwurf weiter als im Fall Gröning. Würden Sie uns das erklären?
Das Spannende an der Entscheidung in Detmold ist, dass die Richter die sogenannte "Vernichtung durch Arbeit" in die Verurteilung mit einbezogen haben. Die haben gesagt, auf der einen Seite haben wir unmenschliche Existenzbedingungen wie fehlende Unterkunft, fehlende Kleidung, fehlende Nahrung, miserable medizinische Versorgung bis hin zu medizinischen Versuchen. Und auf der anderen Seite mussten die Häftlinge härteste Zwangsarbeit leisten, die ihre Körper völlig auszehrte. Und das zusammen führte demnach dazu, dass die Entscheidungsträger in Kauf genommen oder sogar angestrebt haben, dass diese Menschen zu Tode kommen.
Das passierte nicht nur im Einzelfall, sondern systematisch.
Genau, deswegen sind die 8000 Menschen, die auf diese Weise in diesem bestimmten Zeitraum starben, mit in die Zahl der Opfer eingerechnet worden. Noch hat der BGH in dieser Sache aber nicht entschieden. Ein Schuldspruch würde den Kreis möglicher Beschuldigter erheblich weiter ziehen. Einfach weil diese unmenschlichen Bedingungen in anderen Situationen noch öfter auftauchten, als die direkte Tötung durch Genickschüsse und Gaskammern.
Wo hätten Sie noch mehr Anknüpfungspunkte für Ermittlungen?
Bei anderen Lagern wie Bergen-Belsen und Neuengamme spielte dieser Aspekt eine große Rolle. Da wird es aber zum Teil sehr unübersichtlich, weil man im Fall von Bergen-Belsen beispielsweise abklopfen muss, was hängt mit der Versorgungslage insgesamt zusammen: Wenn Sie jemandem den Vorwurf machen, dass er jemanden verhungern hat lassen, dann müssen Sie natürlich auch nachweisen, dass genügend Nahrung dagewesen wäre. Oder Sie stützen sich auf das Argument, dass man ihn dann nicht zur Arbeit zwingen darf, wenn man schon so wenig Nahrung hat. Was sehr interessant ist, dass wir Geschädigte haben, die sich noch an so einem Verfahren beteiligen könnten, weil einige zum Glück diese "Vernichtung durch Arbeit" überlebt haben.
Welchen Einfluss hat das Gröning-Urteil auf Ermittlungen gegen die sogenannten Einsatzgruppen, die hinter der Front mordeten?
Wir haben das aus zwei Gründen zunächst zurückgestellt und die Lager in den Fokus gerückt: In einem Lager ist das Vernichtungsgeschehen leichter nachzuweisen. Außerdem bestanden die Einsatzgruppen meist aus älteren Männern - die Erfolgsaussichten, noch einen lebenden Täter zu finden, sind leider ziemlich gering. Das ist auch der Grund, warum wir versuchen, mit einer Reise nach Buenos Aires in diesem Jahr die Ermittlungen in Argentinien zu beenden. Wir haben aus mühsamen Recherchen vor Ort zwar Namen mutmaßlicher NS-Verbrecher mitgebracht, mussten dann aber feststellen, dass diese bereits verstorben waren. Wir konzentrieren uns jetzt auf Beschuldigte in Deutschland.
Sie werden sicher oft gefragt, wie sinnvoll diese Verfahren gegen Menschen sind, die keine hohe Lebenserwartung mehr haben. Wie antworten Sie darauf?
Der Gesetzgeber hat sich bewusst dafür entschieden, dass Mord, und ganz gezielt die NS-Morde, nicht verjähren sollen, und die Justiz nimmt diesen Auftrag bis zum Ende ernst. Ich finde es ganz wichtig, dass man das neben anderen Formen der Aufarbeitung auch mit juristischen Mitteln versucht, weil sich die deutsche Justiz dazu bekennen muss. Das waren nicht nur Verbrechen eines ungeheuren Ausmaßes, sondern vom Staat organisiert oder geduldet. Und deswegen meine ich auch, dass es staatliche Aufgabe ist, das mit diesen Mitteln aufzuklären. Das ist die juristische Seite.
Und welche Seite gibt es noch?
Die Bedeutung für die Opfer und deren Nachkommen. Sie können sich an den Verfahren als Zeugen und Nebenkläger beteiligen. Das Strafmaß scheint mir nicht so sehr im Vordergrund zu stehen, sondern die Aufklärung in diesem kommunikativen Prozess einer Hauptverhandlung und auch die Feststellung heute, dass es Unrecht war und dass auch der einzelne Beteiligte wenigstens einen kleinen Teil der Verantwortung trägt.
Haben Sie Ideen, was aus Ihrer Behörde und diesem Wissen nach Ende der Ermittlungen werden könnte?
Die Justizminister der Länder haben erklärt, dass sie Ludwigsburg als Stätte des Gedenkens, der Mahnung, der Aufklärung und der Forschung erhalten wollen. Wir haben das Bundesarchiv jetzt schon bei uns im Haus. Das kümmert sich auch um die Akteneinsicht, wenn ein Angehöriger zum Beispiel wissen möchte, was der Opa im Krieg gemacht hat. Vor Ort arbeitet auch eine Forschungsstelle der Universität Stuttgart, und einmal in der Woche ist ein Pädagoge da, der mit Schülern und Lehrern arbeitet. Die künftigen Säulen sind also schon angelegt: Konservieren des Bestandes, wissenschaftliches Erschließen und Vermittlung dieses Wissens. Aber wir konzentrieren uns jetzt, jedenfalls die nächsten Jahre, voll auf das, was juristisch noch möglich ist.