Chefankläger Jallow zum UN-Ruandatribunal:"Wir können nur eine kleine Anzahl von Tätern auswählen"

Denkmal-Zentrum in Kigali

In der Genozid-Gedenkstätte in Kigali betrachtet ein Mann die eingravierten Namen der Opfer des Völkermordes

(Foto: dpa)

Mehr als 800 000 Menschen wurden vor 20 Jahren in Ruanda ermordet, doch nur 84 Tatverdächtige mussten sich dafür vor dem Internationalen Strafgerichtshof für Ruanda verantworten. Im SZ.de-Gespräch erläutert Chefankläger Jallow, was dennoch erreicht wurde.

Von Ronen Steinke

Dieser Völkermord ist in der Weltgeschichte beispiellos: In weniger als Hundert Tagen ermordeten ruandische Rassisten mehr als 800 000 Angehörige der Tutsi-Minderheit sowie gemäßigte Hutu, in grausiger Handarbeit, meist mit Macheten. Ihr Verbrechen jährt sich nun zum zwanzigsten Mal. Doch viele Täter von damals laufen frei herum. Die Vereinten Nationen (UN) haben zwar im Jahr 1994 ein internationales Tribunal geschaffen, um die Verantwortlichen für den Völkermord zu bestrafen. Aber das Tribunal hat seither nur fünf Dutzend Männer verurteilt. Manche Straftaten hat es dabei sogar ganz ausgeblendet, behaupten Kritiker. Chefankläger Hassan Jallow verteidigt im Interview die Arbeit des Internationalen Strafgerichtshofs für Ruanda (ICTR). Der heute 64-Jährige studierte in verschiedenen afrikanischen Staaten sowie in Großbritannien Jura, bevor er in seiner Heimat Gambia bis zum Justizminister und Richter des Verfassungsgerichts aufstieg.

Süddeutsche.de: Herr Jallow, zwanzig Jahre nach dem Völkermord im Ruanda geht die strafrechtliche Aufarbeitung zu Ende. Für diese Aufarbeitung sind die meiste Zeit über Sie verantwortlich gewesen. Stört Sie der Vorwurf, das UN-Tribunal habe nur einen winzigen Ausschnitt der ruandischen Verbrechen angeklagt und das meiste links liegen gelassen?

Hassan Jallow: Als Ankläger an einem UN-Gericht können Sie nie ein vollständiges Bild von dem wiedergeben, was historisch geschehen ist. Wir können nur eine kleine Anzahl von Tätern auswählen.

Angesichts des Völkermordes in Ruanda mit mehr als 800 000 Toten und schätzungsweise mehr als 80 000 Tätern haben die Vereinten Nationen 84 Tatverdächtige angeklagt. 61 von ihnen sind verurteilt worden.

Es gibt auf Ebene der internationalen Justiz weder die Zeit noch das Geld, um alle Tatverdächtigen, die einen Prozess verdient hätten, zu verfolgen. Also muss man eine Auswahl treffen. Natürlich sollte diese Auswahl auf objektiven Kriterien beruhen. Wir müssen uns sehr genau überlegen, wen wir anklagen wollen.

Gerade hier setzt aber die Kritik an. Sie haben ausschließlich Angehörige der Hutu-Mehrheit angeklagt - nicht auch der Tutsi-Minderheit. Dabei verübten auch Tutsi 1994 vereinzelte Massaker aus Rache.

Unser Tribunal hat ein Mandat, um Individuen zu verfolgen, die Verbrechen begangen haben. Nicht, um Geschichte zu schreiben. Auch wenn die Arbeit, die wir machen, von manchen historisch genannt wird, ist es nicht unser oberstes Ziel, der Geschichte als Ganzes gerecht zu werden.

Gibt es nicht eine Pflicht, gegen alle Seiten eines Konflikts zu ermitteln?

Wir am Tribunal haben nicht nach verschiedenen Seiten eines Konflikts gesucht. Sondern wir haben uns das vorrangige, alles andere überschattende Verbrechen in Ruanda 1994 angesehen: Völkermord. Auf dieser Grundlage haben wir unsere Hauptverdächtigen ausgewählt.

Das Mandat des Tribunals läuft aus. Ende dieses Jahres müssen Sie schließen.

Ja, das ist ein weiteres Problem. Auch der Zeitdruck hat einen Einfluss auf die Frage, welche Verbrechen wir vor Gericht bringen können und welche nicht. Manchmal ist es unter einem solchen Druck nötig, Absprachen mit den Tätern einzugehen, schlichtweg um einen Prozess effektiv zu Ende führen zu können. Das bedeutet in der Regel, dass einzelne Vorwürfe fallengelassen werden, wenn der Täter im Gegenzug ein Geständnis abgibt. Kein Ankläger tut das gerne. Aber klar ist: Irgendetwas müssen Sie als Ankläger fallenlassen, sonst gibt es keine Verständigung.

Schmälern solche Händel nicht die historische Authentizität der Urteile?

Sind die Urteile des UN-Ruandatribunals wertvolle Dokumente für die Geschichtsschreibung? Natürlich. Aber es sind auch Produkte einer schwierigen Arbeit. Schauen Sie, einer der wichtigsten Prozesse, die wir je geführt haben am Tribunal, richtete sich gegen Jean Kambanda ...

... den Mann, der als Hutu-Extremist die Rolle des Premierministers einnahm während der hundert Tage des Völkermords ...

... ein wichtiger Angeklagter. Es war ein enorm wichtiges Signal, dass er vor dem Tribunal wegen Völkermords schuldig gesprochen würde. Das war historisch. Dieses Urteil hat die Dinge erstmals schwarz auf weiß beim Namen genannt. Von nun an konnte niemand mehr die Wahrheit des Völkermords leugnen. Aber verstehen Sie: Darum ging es mir als Ankläger nicht in erster Linie. Mir ging es zunächst nur darum, ein Grundsatzurteil zu erstreiten, dass mich von der Last befreien würde, bei jedem künftigen Prozess immer wieder von vorne beweisen zu müssen, dass es einen Völkermord gegeben hat. Der Wert für die Geschichtsschreibung ist nur ein Nebenprodukt.

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