Süddeutsche Zeitung

Interview:EU-Ratspräsident: Kommission trödelt beim Kampf gegen hohe Energiekosten

"Wir haben keinen Tag mehr zu verlieren, wir können uns nicht den Luxus erlauben, weitere Wochen und Monate zu warten", sagt Charles Michel und kritisiert Kommissionschefin Ursula von der Leyen. Einzelne EU-Staaten warnt er vor Alleingängen in der Energiepolitik.

Interview von Björn Finke, Brüssel

In dem Saal im obersten Stock des Europagebäudes in Brüssel wird bei EU-Gipfeltreffen immer das Abendessen serviert. Diese Konferenzen organisiert und leitet Ratspräsident Charles Michel. Als der frühere belgische Premier nun in diesem Saal zum Interview empfängt, trägt er Anzug und Krawatte. Sonst verzichtet der 46-Jährige auch gerne auf den Binder, aber diesmal kommt er direkt von einer Unterredung mit den EU-Botschaftern der 27 Mitgliedstaaten. Da ging es unter anderem um die hohen Energiepreise.

Michel klagt, dass die EU-Kommission immer noch keine konkreten Vorschläge präsentiert habe, wie die Strom- und Gaspreise gesenkt werden können: "Wir haben das Problem nicht erst heute entdeckt", sagt der liberale Politiker in dem Gespräch mit der Süddeutschen Zeitung und einigen internationalen Medien. Der Europäische Rat - also das Gremium der 27 Staats- und Regierungschefs - habe schon im vergangenen Oktober erstmals darüber diskutiert und seitdem immer wieder. "Und wir haben die Kommission mehrmals gebeten, konkrete Vorschläge auf den Tisch zu legen."

"Für unsere Bürger, für Familien, für Unternehmen ist der Anstieg der Preise für Gas und Strom eine Katastrophe", sagt Michel, der seit fast drei Jahren Präsident des Europäischen Rats ist. "Wir haben keinen Tag mehr zu verlieren, wir können uns nicht den Luxus erlauben, weitere Wochen und Monate zu warten", drängt er. "Vorschläge müssen so schnell wie möglich auf den Tisch - und ich hoffe nicht erst nach der Rede zur Lage der Europäischen Union."

Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen wird diese Rede am 14. September im Straßburger Europaparlament halten. Es wird erwartet, dass sie dort konkrete Initiativen ankündigt, wie der Strompreis schnell gedrückt werden kann. Bereits Anfang dieser Woche sprach sie von einem "Notfallinstrument", das rasch in Kraft treten solle. Kommenden Mittwoch sollen sich Fachleute der EU-Regierungen über ein Diskussionspapier austauschen, in dem die Brüsseler Behörde Vor- und Nachteile diverser Markteingriffe analysiert.

Zwei Tage später sollen die Energieminister bei einem Sondertreffen darüber reden. Die Reaktionen und Einschätzungen der Regierungen werden dann wohl beeinflussen, welche Schritte von der Leyen kurz darauf in ihrer jährlichen Rede zur Lage der EU präsentieren wird. Danach kann ihre Behörde die Gesetzentwürfe ausarbeiten.

Sein Verhältnis zu von der Leyen ist angespannt

Michels Wunsch nach einem konkreten Vorschlag vor der Rede wird von der Leyen also wohl nicht erfüllen. Das Verhältnis zwischen den beiden ehrgeizigen Politikern gilt ohnehin als angespannt; sie wetteifern um Anerkennung und Einfluss in Brüssel. Von der Leyen hat dabei als Leiterin einer Riesenbehörde mit Milliardenbudget die besseren Karten. Die Rolle des Ratspräsidenten beschränkt sich hingegen darauf, die - zugegebenermaßen sehr wichtigen - Treffen der 27 Staats- und Regierungschefs vorzubereiten und zu leiten und dieses Gremium nach außen hin zu vertreten.

Die Frage, ob und wie Regierungen in die Energiemärkte eingreifen sollten, führte bei diesen Gipfeltreffen immer wieder zu zähen Debatten. Regierungen wie die deutsche und österreichische lehnten Preisdeckel lange ab und wehrten sich gegen entsprechende Forderungen aus anderen EU-Staaten. Doch die Stimmung ist gekippt; inzwischen dürfte es Konsens sein, dass die Politik einschreiten muss. Michel sagt, trotzdem werde es "schwierig" werden, sich zu einigen. Er sei sich aber sicher, dass es gelinge, "wenn erst einmal konkrete Vorschläge auf dem Tisch liegen".

Der Belgier, der von 2014 bis 2019 Premierminister war, hält auch Verbesserungen nötig beim Plan der Kommission, Bestellungen der Mitgliedstaaten für Gas und Wasserstoff zu bündeln, um mehr Verhandlungsmacht gegenüber Lieferländern zu haben. "Wir haben hier keine Fortschritte gemacht über den Sommer", klagt er. Zugleich hätten einzelne Mitgliedstaaten lieber alleine mit Lieferländern verhandelt. Michel nennt keine Namen, aber ein Beispiel wäre die Bundesregierung, die Energiepartnerschaften mit Katar und Kanada unterzeichnet hat. Der Ratspräsident sagt, es sei "in unserem gemeinsamen Interesse", Einkaufsmacht zu bündeln, so wie es die EU seit Sommer 2020 bei der Beschaffung von Covid-Vakzinen macht.

280 Milliarden Euro gegen die hohen Energiepreise

Michel bezeichnet die Herausforderungen, vor denen die EU gerade steht, als "extrem schwierig und hart" - und das nicht nur wegen der Strom- und Gasnotierungen. Die Regierungen hätten bereits 280 Milliarden Euro bereitgestellt, um die Folgen der hohen Energiepreise abzufedern, sagt der Belgier und beruft sich dabei auf Berechnungen des Brüsseler Forschungsinstituts Bruegel: "eine Riesensumme". Zugleich müsse die öffentliche Hand allerdings in Klimaschutz und den grünen Wandel der Wirtschaft investieren. "Und einige Mitgliedstaaten haben hohe Schuldenstände, und wir müssen daher auch das Signal senden, dass unsere Finanzpolitik solide ist", erklärt Michel.

Eine geballte Ladung, doch der Ratspräsident gibt sich zuversichtlich, dass die EU die Probleme gemeinsam lösen wird. "Wir schaffen das", sagt er auf Deutsch und spielt damit auf Angela Merkels berühmtes Versprechen in der Flüchtlingskrise an. "Wir haben die nötigen Werkzeuge und Mittel, aber wir müssen geeinigt und schnell handeln." Wichtig sei bei all dem, dass die Regierungen nicht das Vertrauen und die Unterstützung der Bürger verlören. Dieses Risiko bestehe dann, wenn Regierungen nicht in der Lage seien, den Bürgern in diesen harten Zeiten Hilfe zu bieten.

Hilfe erhält auch die Ukraine von der EU - in Form von Waffenlieferungen und durch Geldspritzen. Beim jüngsten Finanzpaket hakt es aber. Von der Leyen schlug bereits im Mai vor, der Ukraine im laufenden Jahr bis zu neun Milliarden Euro zukommen zu lassen. Im Juni segnete ein EU-Gipfel dieses Vorhaben im Grundsatz ab. Doch die Regierungen waren sich uneins über die Details, vor allem die Frage, wie viel als Darlehen und wie viel als Zuschuss fließen soll. Michel sagt, die Zeit dränge, das Versprechen endlich zu erfüllen: "Ich habe dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj persönlich zugesagt, dass ich mein Bestes tun werde, einen Kompromiss mit sämtlichen Mitgliedstaaten zu finden." Hinter den Kulissen sei viel gearbeitet worden, sodass eine Einigung jetzt sehr nahe sei, erklärt der Ratspräsident.

Vielleicht sogar so nahe, dass sie pünktlich zum Treffen des EU-Ukraine-Assoziationsrats am Montag in Brüssel verkündet werden kann. Das wären dann gute Nachrichten in schweren Zeiten.

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