Süddeutsche Zeitung

Charles de Gaulle:Frankreichs strenger Allvater

  • Johannes Willms hat eine Biografie über Charles de Gaulle (1890-1970) geschrieben, der wohl zentralsten politischen Figur des politischen Frankreichs im 20. Jahrhundert.
  • Das Buch ist lehrreich, aber auch teilweise allzu nüchtern.
  • De Gaulle war Weltkriegs-General, später prägender Präsident und gilt als Liebling vieler Franzosen.

Rezension von Jean-Marie Magro

Mit dem Namen Charles de Gaulle verbinden viele Franzosen vor allem ein Wort: Größe. Nicht nur, weil der General mit seinen 1,96 Metern eine unübersehbare Erscheinung war und vor Selbstvertrauen strotzte.

De Gaulle war der Franzose, der mit den Roosevelts, Churchills und Stalins - zumindest gefühlt - auf Augenhöhe war. Der "Mythos de Gaulle" gründet sich auf seinen Widerstand gegen den Marschall Philippe Pétain und die von diesem unterschriebene Kapitulation im Zweiten Weltkrieg.

Pétain war eine Ikone in Frankreich, der Held von Verdun aus dem Ersten Weltkrieg - und eigentlich auch das Idol des jungen Charles de Gaulle. In seiner Biografie legt der frühere SZ-Redakteur und Frankreichkenner Johannes Willms detailliert dar, wie die beiden in den 1920er-Jahren eng befreundet waren. De Gaulle machte den Marschall sogar zum Patenonkel seines Sohnes.

De Gaulle überwarf sich jedoch mit seinem Mentor, weil beide komplett unterschiedlicher Meinung über den Krieg waren. Pétain unterzeichnete die Kapitulation, als die Deutschen 1940 über Frankreich herfielen. De Gaulle wollte sich niemals ergeben, floh stattdessen nach London, um von dort aus das "Freie Frankreich" anzuführen.

Nach dem Krieg hatte er dann die Chuzpe zu sagen, das wirkliche Frankreich sei immer dort gewesen, wo er, de Gaulle, war. Willms beschreibt, wie de Gaulle die Blamage der Kapitulation den Parteien in der französischen Politik zuschob und damit fast all seine Landsleute von jeglicher Schuld freisprach.

Wer sich das Leben des Generals vor Augen führt, versteht einige Zusammenhänge in der heutigen Zeit. Die Sehnsucht einiger Franzosen nach Grandeur, nachdem das Land durch die Verluste ehemaliger Kolonien in Afrika und der Levante stark an Bedeutung verlor.

Das Trauma des Algerienkriegs, das viele Nordafrikaner dazu bewegte, nach Südfrankreich auszuwandern. Aber auch die Skepsis gegenüber Engländern wie Amerikanern, die de Gaulle wie kein anderer hegte.

De Gaulle, so Willms, vermutete hinter deren Hilfe ständig ein Kalkül. Dass diese nämlich das Vakuum, das die Franzosen durch ihre Niederlagen in der Levante und in Nordafrika hinterließen, ausfüllen wollten.

Allerdings hatte de Gaulle auch Grund dazu, etwa mit Blick auf die Amerikaner zu zweifeln. Lange hielt Präsident Roosevelt enge Beziehungen zum Vichy-Regime unter Pétain, weil er de Gaulle nicht vertrauen wollte. Zur Konferenz in Jalta lud er den französischen General nicht einmal ein.

Parallelen zwischen dem ersten Präsidenten der V. Republik und dem aktuellen Staatschef

Obwohl Frankreich als Siegermacht anerkannt und ihm ein Sitz im UN-Sicherheitsrat zugesprochen wurde, fehlte ein Vertrauensverhältnis zwischen de Gaulle, Briten und Amerikanern. 20 Jahre später wollte er es diesen mit dem Austritt aus der Nato heimzahlen.

Ähnlich wie Emmanuel Macron heute, der jüngst das Militärbündnis als "hirntot" bezeichnete, wollte de Gaulle eine schlagfertige europäische Armee. Er sah diese eigentlich als Vorbedingung für die Nato, nicht als deren Folge, analysiert Willms. Es ist nicht die einzige Parallele zwischen dem jetzigen und dem ersten Präsidenten der V. Republik.

Willms beschreibt den Präsidenten de Gaulle, der von 1958 bis 1969 regierte, als einen Anti-System-Politiker, wenn man so will sogar als einen geistigen Vater Emmanuel Macrons. De Gaulle wollte sich genauso wenig in eine politische Ecke drängen lassen. Für die Linken war er rechts, für die Rechten links. Parteien waren für ihn ein Schimpfwort.

Wie Macron sah er die Zukunft eher in einer Sammlungsbewegung, die verschiedene Denkweisen integrieren konnte. Der Präsident de Gaulle strebte außerdem nach umfangreichen Vollmachten. Die Legitimation durch ein Parlament verlachte er, stattdessen suchte er mit Referenden den direkten Draht zum Volk. Bis heute projizieren viele Franzosen in den Präsidenten eine Art Allvater des politischen Systems.

Interessant lesen sich in Willms Biografie die Passagen über de Gaulles Vorstellungen eines "Europas der Vaterländer". Noch heute beziehen sich Rechtspopulisten auf dieses Modell, unter anderem AfD-Chef Alexander Gauland. Was sie jedoch verschweigen: De Gaulle war sehr wohl für eine politische Union Europas und wie bereits erwähnt für eine gemeinsame Verteidigungspolitik.

Willms beschreibt die Stationen des Generals sehr detailreich - und auch, warum dieser am Ende scheiterte. De Gaulle habe nie richtige Kenntnisse über seine Landsleute gehabt, sondern wurde vor allem von seiner bestimmten Vorstellung eines großen Frankreichs getrieben, seiner certaine idée de la France.

Die Studentenunruhen im Jahr 1968 verstand de Gaulle nicht etwa als einen Aufruhr von jungen Menschen, die sich Sorgen um ihre Zukunft machten, sondern als einen Angriff auf den Staat, seinen Staat. In dieser Analyse ist die Biografie am stärksten, da sie die Parallelen zu den Gelbwesten-Protesten aus dem vorigen Jahr offenbaren. Macron scheint im Gegensatz zu de Gaulle im letzten Moment die Kurve bekommen zu haben.

Die Schwäche des Buches liegt in der Distanz, die der Autor zwischen den Lesern und de Gaulle aufbaut. Willms dokumentiert sehr nüchtern die politische und militärische Karriere. Warum de Gaulle jedoch bis heute einer der beliebtesten Franzosen ist, dazu fehlt der Biografie das Persönliche.

De Gaulle hatte, jenseits des unerschütterlichen Selbstbewusstseins, das manchmal in Arroganz umschlug, etwas Väterliches und Nahbares. Diese Nähe fehlt dem fast 600 Seiten dicken Buch. Die Distanz baut Willms bedauerlicherweise auch nicht in der Beschreibung von de Gaulles Blick auf Deutschland ab. Er skizziert dessen Verhältnis zum Nachbarland, in dem er während des Ersten Weltkriegs fast zwei Jahre gefangen gehalten worden war, als ängstlich und verbittert.

Nach 1945 wollte er das Land am liebsten in kleine, machtlose Staaten zersplittern. Erst später, als er sich in den 50ern eine Auszeit vom politischen Leben gönnte, wurde de Gaulle milder. Das gute Verständnis mit Konrad Adenauer gab weitere Pluspunkte.

Willms beschreibt ausführlich die Ernüchterung des Präsidenten, nachdem der Élysée-Vertrag de facto gescheitert war. Der Vertrag wurde, um bei den Amerikanern nicht auf Verärgerung zu stoßen, im Bundestag durch eine Präambel deutlich abgeschwächt. De Gaulle sagte nach diesem Beschluss über die Deutschen: "Sie waren meine größte Hoffnung. Sie sind meine größte Enttäuschung."

Späteren deutschen Politikern hat sich de Gaulles Ludwigsburger Rede eingeprägt

Dabei war de Gaulle vor allem für junge Deutsche eine Inspiration. Am 9. September 1962, zum Abschluss seiner sechstägigen Deutschlandreise, sprach er vor Tausenden jungen Menschen in Ludwigsburg. De Gaulle hatte während seiner Kriegsgefangenschaft in Ingolstadt Deutsch gelernt.

Die viertelstündige Rede hat sich bis heute bei Zuhörern wie Horst Köhler und Erwin Teufel eingeprägt. De Gaulle sagte, er beglückwünsche die Zuhörer, Teil eines "großen Volkes" zu sein. Ein Satz, den viele Deutsche selbst heute und erst recht nicht im Jahr 1962 sich trauen würden zu sagen.

Ein Satz, der jungen Menschen Mut gab und sie mit ihrem Land ein Stück versöhnte. Die gesamte Deutschlandreise wird in der Biografie von Johannes Willms auf einer halben Seite abgehandelt. Der Name der Stadt Ludwigsburg taucht nicht einmal auf.

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Quelle:
SZ vom 02.12.2019
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