UkraineRussische Raketen zum Karfreitag

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Dreimal schlugen russische Raketen am Karfreitag in Charkiw ein. Hier der getroffene Wohnkomplex, zu dem eine Schule und ein Kindergarten gehören.
Dreimal schlugen russische Raketen am Karfreitag in Charkiw ein. Hier der getroffene Wohnkomplex, zu dem eine Schule und ein Kindergarten gehören. (Foto: Friedrich Bungert)

Bei einem schweren Angriff auf die ukrainische Großstadt Charkiw werden mehr als hundert Menschen verletzt, mindestens einer stirbt. Und auch eine wichtige Schule trifft es schwer.

Von Florian Hassel, Charkiw

Es ist zwanzig Minuten nach fünf Uhr am Karfreitag in der Früh, als Walerij Nisterenko in seiner Wohnung am Prospekt der Raumfahrtkosmonauten im Süden von Charkiw von einem Knall geweckt wird, wie er ihn selbst in diesem Krieg bislang nicht gehört hat. Keine 300 Meter von seinem Haus entfernt ist zwischen zwei der benachbarten Wohnhochhäuser in der Luft eine russische Rakete explodiert – eine Rakete mit Streumunition, um so viel Schaden wie möglich in der Umgebung anzurichten.

Nisterenko, ein 70 Jahre alter pensionierter Fahrer, geht nach draußen. Die Hauswände und sogar der Asphalt sind übersät mit Einschlaglöchern der Streumunition, in den Häusern sind die Fensterscheiben zerplatzt. Es ist ein Bild der Verwüstung. Die Gewalt der Explosion hat selbst Autos und massive Metallcontainer wie Papier zusammengedrückt.

„Es ist unsere Heimat, wir wollen hier nicht weg“

Mehr als 50 Menschen sind verletzt, mindestens ein 78 Jahre alter Charkiwer ist gestorben, sagt Bürgermeister Igor Terechow, der kurz nach den Rettungsmannschaften an der Explosionsstelle eintrifft, in einer ersten Bilanz. Später steigt die Zahl der Verletzten dem Militärgouverneur zufolge auf 103 Menschen, darunter sechs Kinder. 17 Menschen werden in vier Krankenhäuser Charkiws gebracht, darunter ein einjähriger Junge und ein vier Jahre altes Mädchen. Vier Schwerverletzte kämpften dem Militärgouverneur Oleh Synehubow zufolge um ihr Leben. Insgesamt drei russische Iskander-Marschflugkörper explodieren am frühen Morgen in Charkiw.

Niemand wundert sich über den russischen Angriff. Charkiw ist die zweitgrößte Stadt der Ukraine, nur wenige Dutzend Kilometer entfernt von der russischen Grenze und ein Hauptziel russischer Angriffe. Zudem haben die Russen in den vergangenen Tagen Angriffe vor allem mit Shaheed-Drohnen ausgeführt – angenommen wurde, dass sie Raketen und Marschflugkörper für spätere Angriffe aufsparen. „Allein vor zwei Wochen hat es knapp zwei Kilometer von uns entfernt im Stadtteil Osnowjanski 17 Einschläge gegeben“, sagt Walerij Nisterenko, der mit Frau Nina, den Töchtern Tanja und Rita und einer Enkelin den gesamten Krieg in Charkiw geblieben ist.

Anwohner versuchen, nach dem Angriff etwas Ordnung zu schaffen.
Anwohner versuchen, nach dem Angriff etwas Ordnung zu schaffen. (Foto: Friedrich Bungert)

Erst Anfang März hat er seinen Nachbarn Wolodja Starschenko mit zu Grabe getragen, der im vergangenen Herbst mit 53 Jahren einberufen wurde und den Kampf an vorderster Front nur ein paar Monate überlebte. „Es ist unsere Heimat, wir wollen hier nicht weg“, sagt Nisterenko.

Die anderen Raketen an diesem Morgen sind in einem Industriegebiet eingeschlagen, was dort möglicherweise getroffen werden sollte, ist unklar. Nach der Explosion zwischen den Wohnhäusern sind Hunderte Helfer der Charkiwer Rettungsmannschaften dabei, Trümmer zu bergen, das Rote Kreuz gibt Wasser an die Einwohner aus, deren Wohnungen verwüstet oder zerstört sind.

Hinter einem Zaun, der zur benachbarten Schule führt, liegen Reste des Motors und andere Teile der explodierten russischen Rakete. Auch die Schule, eine der größten Charkiws, hat es schwer getroffen; Hunderte Schreiben sind zersprungen, die der Explosion am nächsten liegenden Klassenzimmer sind Trümmerfelder. Aus einem leeren Rahmen hängt ein grüner Teppich unversehrt im zerstörten Fensterrahmen, in einem Spielzimmer für die kleinsten Schüler hat die Wucht der Explosion einen großen Spielzeugtiger auf die Seite geworfen.

Die Schule wird seit 2007 von der Physik- und Informatiklehrerin Jana Bilasch geführt, der die Tränen in den Augen stehen, während sie durch ihre teils zerstörte Schule geht. An Wänden der Innenflure hängen die zahlreichen Auszeichnungen für die Schule, erinnert eine Wand an den ukrainischen Philosophen, Schriftsteller und Komponisten Hryhorij Skoworoda (1722 – 1794). Am Eingang hängt eine Gedenktafel für den ehemaligen Schüler Jaroslaw Lomak, der in den ersten Tagen der russischen Invasion bei einer Raketeneinheit in Charkiw diente und starb.

Ein zerstörtes Klassenzimmer. Die getroffene Schule ist eine der wichtigsten von Charkiw, der zweigrößten Stadt in der Ukraine.
Ein zerstörtes Klassenzimmer. Die getroffene Schule ist eine der wichtigsten von Charkiw, der zweigrößten Stadt in der Ukraine. (Foto: Friedrich Bungert)

„Vor dem Überfall haben wir 1400 Schüler von der ersten bis zur elften Klasse unterrichtet, jetzt immer noch 1117“, sagt die Direktorin mit schwachem Stolz. „Natürlich haben wir nicht mehr in den Klassenzimmern unterrichtet, sondern online und in den unterirdischen U-Bahn-Stationen unserer Stadt.“

Doch die Schule war mehr als eine Schule: Wenn im Winter wieder der Strom ausfiel, konnten die Anwohner ihre Mobiltelefone an den Großbatterien und Dieselgeneratoren aufladen, die die Schule im „Zimmer der Unbesiegbarkeit“ aufgestellt hat. Der Keller der Schule dient als Bombenschutzkeller. „Und oben haben wir eine Sozialküche eingerichtet, in der wir jeden Tag an 800 bis 1000 Charkiwer eine warme Mahlzeit ausgegeben haben“, sagt Bilasch. „Das können wir angesichts des Ausmaßes der Zerstörung wohl erst einmal vergessen.“ Nur der Sportplatz und der Kinderspielplatz neben der Schule haben wie durch ein Wunder keine Schäden davongetragen.

Vor dem Schulzaun stehen Witalij Kusnezow, seine Frau Julia und ihre fünf Jahre alte Tochter Oliana. Sie sind nicht nur mit dem Schrecken davongekommen, sondern vor allem mit dem Leben: Ihre Wohnung 34 im 9. Stock des Hauseingangs Nr. 1 lag direkt neben der Explosionsstelle der Rakete und ist nur noch ein Trümmerfeld. „Wir können alles wegwerfen“, sagt Kusnezow. Er ist 41 Jahre alt und hat sich an diesem Morgen in einen schwarzen Trainingsanzug geworfen, er ist vom Dienst bei der Notfallabteilung der städtischen Kanalwerke befreit, um den Schaden an seiner Wohnung in Augenschein zu nehmen und den Behörden zu melden.

Dass der dreiköpfigen Familie kein Haar gekrümmt wurde, ist purer Zufall: Die letzte Nacht haben die Kusnezows in der rund vier Kilometer entfernten Wohnung von Julia Kusnezowa übernachtet. „Hier sehen Sie, wie Russland Friedensverhandlungen führt“, sagt Kusnezow bitter. An ein baldiges Ende des Krieges glaubt er ebenso wenig wie sein Nachbar Walerij Nisterenko. „Ich glaube nicht, dass ich das Ende des Krieges noch erleben werde“, sagt der 70 Jahre alte Nisterenko. „Wir wollten eigentlich heute losgehen und Eier und Farbe für Ostersonntag kaufen. Aber keinem von uns ist jetzt nach Feiern zumute.“

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