Prantls Blick:Berliner Charité stellt sich einer fürchterlichen Vergangenheit

Lesezeit: 3 Min.

Stieve bei einer Anatomie-Vorlesung. (Foto: oH)

Die Universitätsklinik erinnert an die Schandtaten des Nazi-Anatomen Hermann Stieve. Am kommenden Montag werden in Berlin bei einer Gedenkfeier Überreste seiner Opfer bestattet.

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Der Gynäkologe und Anatom Hermann Stieve hat 1918 seine Habilitation über "Die Entwicklung des Eierstocks der Dohle" veröffentlicht. In der Nazizeit war er dann Medizinprofessor in Berlin und forschte über den Einfluss von Angst und Schrecken auf die Keimdrüsen des Menschen, also auf Eierstöcke und Hoden. Professor Stieve nutzte zu diesem Zweck die Organe von NS-Opfern, die im Gefängnis von Berlin-Plötzensee und im KZ Ravensbrück getötet worden waren; besonders oft nutzte er die Organe von umgebrachten jungen Frauen des deutschen Widerstandes. "Werkstoff" war das für ihn, und er fühlte sich verpflichtet, "diesen Werkstoff entsprechend zu bearbeiten, zu fixieren und aufzubewahren".

"In mustergültiger Weise"

1942 rühmte sich der Gynäkologe Stieve in einem Buch über die weiblichen Geschlechtsorgane: "Ich habe stets die Eierstöcke 10 Minuten (...) nach dem Tode im ganzen fixiert." Nach dem Krieg war Stieve in der DDR Ordinarius der Humboldt-Universität zu Ostberlin; er wurde Ehrenmitglied der Deutschen Gynäkologischen Gesellschaft. Als Stieve 1952 starb, rühmte das Jahrbuch der Bayerischen Akademie der Wissenschaften das "einzigartige Untersuchungsgut, wie es in dieser Zahl, Güte und Vollständigkeit noch keinem Forscher zur Verfügung stand". Und die Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin, die bedeutendste Forschungseinrichtung der DDR, schrieb in ihrem Nachruf, dass Stieve 30 Jahre lang "den Medizinstudenten in mustergültiger Weise die anatomischen Kenntnisse grundlegend vermittelte".

Präparate im Nachlass

Warum ich das aus den Archiven von damals zitiere? Am Montag, den 13. Mai findet in der Trauerkapelle des Dorotheenstädtischen Friedhof in Berlin eine Gedenkfeier statt. Der Neurologe Max Einhäupl, Vorstandsvorsitzender der Charité, und Johannes Tuchel, Leiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand, sagen Gedenkworte. Nach einer religiösen Zeremonie, die jüdische, katholische und protestantische Geistliche halten, geht man gemeinsam zu einer Grabstelle, in der dann die mikroskopischen Präparate bestattet werden, die im Nachlass des Gynäkologen Hermann Stieve gefunden wurden.

Auf der Gedenktafel wird stehen: "Im Strafgefängnis Berlin-Plötzensee wurden während der nationalsozialistischen Diktatur zwischen 1933 und 1945 mehr als 2800 Menschen durch das Fallbeil oder durch den Strang ermordet. Die meisten von ihnen wurden danach im Anatomischen und Anatomisch-Biologischen Institut der Berliner Universität zu Forschungs- und Lehrzwecken seziert. Mehr als 300 der dabei entstandenen mikroskopischen Präparate, zumeist von Frauen, wurden 2016 im Nachlass des Anatomen Hermann Stieve aufgefunden. Sie wurden hier am 13. Mai 2019 bestattet."

Hinrichtungsvolle Zusammenarbeit

Im Ärzteblatt Sachsen-Anhalt des Jahres 2007 hat der Schriftsteller Wilhelm Bartsch über Hermann Stieve geschrieben - unter dem Titel "Ein Meister aus Deutschland", ein Zitat aus der wiederkehrenden Zeile aus Paul Celans ergreifendem Holocaust-Gedicht "Todesfuge": "Der Tod ist ein Meister aus Deutschland." Bartsch beschreibt, wie grausam Stieves Taten waren, wie er seine Opfer zuerst seelisch quälte, wie der Fortpflanzungsforscher Stieve mit den Hinrichtern zusammengearbeitet hat, um festzustellen, wie sich Angst, Furcht und Schrecken auf die Fruchtbarkeit von Frauen auswirkt: "Man lasse die Versuchsobjekte ihren Monatskalender führen und dem Gefängnisarzt mitteilen. Dann verkünde man den Objekten entsprechende Tage vor ihrem Eisprung den Hinrichtungstermin. (...) Aber es blieb natürlich nicht bei den Schocknachrichten. Die verkündeten Hinrichtungen wurden dann auch gnadenlos vollzogen."

Informieren. Mahnen. Ehren. Gedenken.

In der Zeitschrift Das Deutsche Gesundheitswesen vom 15. September 1946 hat Stieve eine 22-jährige Frau beschrieben, deren Monatsblutung "infolge starker nervöser Erregung elf Monate lang ausgeblieben war. Aber plötzlich trat im Anschluss an eine Nachricht, die die Frau sehr stark erregt hatte (Todesurteil), eine Schreckensblutung ein. Am folgenden Tag starb die Frau plötzlich durch äußere Gewaltanwendung." Die Frau war, so Bartsch, die Widerstandskämpferin Cato Bontjes van Beek. Ihre Exekution war, wie sie der üblichen Vereinbarung zwischen dem Gefängnis und der Anatomie entsprach, am frühen Abend vollzogen worden, auf dass "die Leichen dann noch am selben Abend zur Anatomie abgeholt werden" und die an ihrer Bearbeitung beteiligten Ärzte anschließend noch mit den öffentlichen Verkehrsmitteln nach Hause fahren konnten. Der Historiker Götz Aly und der Schriftsteller Ernst Klee haben von der "Verarbeitung des deutschen Widerstands zu Gewebequerschnitten" geschrieben.

Blinde Freude

"Zum Wohle der Menschheit" sei sein Tun - das sagte der Forscher Stieve. Über dem Gebäude der Anatomie der Charité steht der Satz: HIC LOCUS EST UBI MORS GAUDET SUCCURRERE VITAE. Auf Deutsch: Hier ist der Ort, an dem der Tod sich freut, dem Leben zu helfen. Eine blinde und böse Freude war da bei Stieve am Werk. Und Plötzensee ist nicht einfach Vergangenheit. Die Medizin ist auch in der Demokratie nicht über Zweifel erhaben. Es ist respektabel, wie sich die Anatomie in Berlin ihrer Vergangenheit stellt: "Informieren. Mahnen. Ehren. Gedenken." hieß eine wissenschaftliche Veranstaltung dazu. Und es ist gut, wenn man um die Lehren daraus ringt.

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