Proteste in Brasilien:Brasilien schlittert mit Ansage ins Chaos

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Der Protest gegen die Regierung führt in der brasilianischen Hauptstadt Brasília zu immer mehr Reibungen zwischen Demonstranten und der Polizei. (Foto: REUTERS)
  • Brasiliens Präsident Michel Temer steht an mehreren Fronten unter großem Druck.
  • Wegen Korruptionsvorwürfen und lautstarken Protesten im Land könnte er sein Amt verlieren.
  • Die Kurse an der Börse sind im Mai eingebrochen, Massen gehen auf die Straße, das Land droht im Chaos zu versinken.
  • Zum ersten Showdown kommt es heute Abend.

Von Benedikt Peters

Am 12. Mai 2016 war Michel Temer am Ziel. Er stand am Rednerpult im brasilianischen Präsidentenpalast, umringt von Dutzenden Männern in Anzügen. Temer war seit wenigen Minuten der neue Staatschef Brasiliens, und er versprach, er werde das Vertrauen in das Land und in seine Politiker wiederherstellen. Die Männer in den Anzügen klatschten.

Ein Jahr und 25 Tage später müssen Michel Temer diese Bilder wie Aufnahmen aus einem anderen Universum erscheinen. Nach zahlreichen neuen Korruptionsskandalen, Ränkespielen und Verhaftungen ist das Vertrauen der Brasilianer in die Politik auf dem Tiefpunkt angekommen. Protestzüge ziehen durch die Straßen, Regierungsgebäude werden in Brand gesteckt. Michel Temer könnte es schon bald so gehen wie Dilma Rousseff, die Frau, die er mit juristisch fragwürdigen Vorwürfen aus dem Präsidentenamt drängte.

In Brasilien kursieren gleich mehrere Szenarien, wie er die Macht verlieren könnte. Zum ersten Showdown kommt es ab heute Abend in einem Saal des Obersten Wahlgerichts in der Hauptstadt Brasília. Die Richter nehmen einen Prozess gegen Temer und seine Vorgängerin Rousseff wieder auf. Ein Urteil fällt möglicherweise schon bis Donnerstag. Den beiden wird vorgeworfen, ihren damals noch gemeinsamen Wahlkampf 2014 (Temer war damals als Vizepräsident angetreten) mit illegalen Spenden finanziert zu haben.

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Temers größtes Problem: Das Tonband eines Fleischbarons

Das Geld soll vom skandalumwitterten Baukonzern Odebrecht gekommen sein. Dessen ehemaliger Chef Marcelo Odebrecht hat ausgesagt, 150 Millionen Reais (heute ca. 41 Millionen Euro) Wahlkampfhilfe an Temer und Rousseff gezahlt zu haben. Versprochen worden sein sollen dem Unternehmer dafür Steuervorteile. Kommen die Richter zu dem Schluss, dass die Vorwürfe stimmen, könnten sie die Wahlen von 2014 annullieren.

Damit wäre Temer sein Amt los. Seine Anwälte haben allerdings angekündigt, alles zu tun, um das Verfahren in die Länge zu ziehen und eine Verurteilung zu verhindern.

Selbst wenn den Anwälten das gelingen sollte: Dass Temer bis zum vorgesehenen Ende seiner Präsidentschaft 2018 im Amt bleibt, ist derzeit so unwahrscheinlich wie nie. Der 76-jährige Staatschef hat noch viel mehr Probleme, und das wohl größte ist das Tonband eines Fleischbarons. Er heißt Joesley Batista und ist der Chef von JBS, dem größten Fleischkonzern der Welt. Batista hat kürzlich gestanden, über Jahre unzählige Politiker geschmiert zu haben. Wegen der Aussicht auf eine milde Strafe stellte er sich den Ermittlern als Kronzeuge zur Verfügung. Und er hat es sich offenbar auch zur Aufgabe gemacht, Temer zu stürzen.

Bei einem heimlichen Treffen der beiden, so viel gilt inzwischen als sicher, ließ Batista ein Tonband mitlaufen. Der Fleischunternehmer spricht an einer Stelle über einen ehemaligen, hochrangigen Politiker, dem er monatlich ein Schweigegeld zahle, damit dieser korrupte Machenschaften für sich behalte. Temer antwortet laut der Aufnahme: "Das musst du aufrechterhalten, okay?"

Das Tonband wurde der Presse zugespielt, ein Aufschrei ging durch Brasilien. Dem Präsidenten wird nun vorgeworfen, die Ermittlungen der Justiz behindert zu haben und selbst Teil von Batistas Korruptionssystem zu sein. Der Oberste Gerichtshof des Landes ermittelt. Wenn er Anklage erhebt, könnte Temer entweder per Gerichtsbeschluss aus dem Amt gefegt werden, oder die Abgeordneten des Parlaments könnten ein Amtsenthebungsverfahren gegen Temer anstrengen - ganz so, wie er es vor gut einem Jahr mit Rousseff gemacht hat. Einige seiner früheren politischen Verbündeten haben sich bereits von ihm losgesagt.

Der Präsident will kämpfen. Er bezeichnet das Tonband als gefälscht, was keinesfalls unmöglich ist. Spuren deuten darauf hin, dass die Aufnahme bearbeitet wurde, und auch unabhängig davon gibt es Zweifel an der Glaubwürdigkeit Batistas, da er selbst tief in die Korruptionsaffäre verstrickt ist. Temer wirft Batista nun seinerseits verbrecherische Umtriebe vor und hat angekündigt, keinesfalls zurückzutreten.

Doch es scheint so, dass Temer die Stimmung gegen ihn nicht mehr drehen kann. Niemand in Brasilien scheint ernsthaft zu glauben, dass der Staatschef in keinen der zahlreichen Bestechungsskandale verstrickt ist, die das Land seit drei Jahren in seinen Grundfesten erschüttern - das gigantische System aus Schmiergeldzahlungen und überteuerten Auftragsvergaben um den halbstaatlichen Ölkonzern Petrobras, die Enthüllungen um den Baukonzern Odebrecht und nun um den Fleischproduzenten JBS.

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Der Protest gegen Temer greift längst um sich. In Umfragen sprechen sich weniger als zehn Prozent der Brasilianer für ihren Präsidenten aus. Ende Mai gingen allein in der Hauptstadt Brasília mehr als hunderttausend Demonstranten auf die Straße, Chaoten steckten das Agrarministerium in Brand, in mehreren Städten kam es zu Generalstreiks und zu schweren Sachbeschädigungen. In Brasília schickte Temer Soldaten auf die Straßen, um die öffentliche Ordnung wiederherzustellen.

Neben den Korruptionsvorwürfen sind viele Brasilianer auch mit Temers Wirtschaftspolitik nicht einverstanden. Seine Regierung will etwa längere tägliche Arbeitszeiten einführen, die Rechte von Gewerkschaften einschränken und das Renteneintrittsalter erhöhen. Dabei leben viele Menschen im von hoher Ungleichheit geprägten Brasilien bereits am Existenzminimum.

Das Ironische an alledem ist, dass sich die noch immer neuntgrößte Volkswirtschaft der Welt gerade zu erholen begann. Nach zwei Jahren heftiger Rezession prognostizieren Analysten Brasilien für 2017 wieder ein vorsichtiges Wachstum. Doch als der Fleischbaron Batista sein Tonband veröffentlichte, brachen die Börsenkurse gleich wieder ein. Der Korruptionssumpf in Brasilien scheint so groß, dass sich das Land kaum daraus befreien kann - und stattdessen immer weiter ins Chaos schlittert.

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