Süddeutsche Zeitung

Weg in die EU:Wieso die Flucht über den Balkan immer mehr zum Glücksspiel wird

Grenze auf, Grenze zu: Die Flüchtlinge auf dem Westbalkan wissen kaum mehr, wie es weitergeht. Sie stranden immer wieder an Orten, deren Namen sie nie gehört haben.

Von Nadia Pantel

Was zu Beginn des Sommers noch die Westbalkan-Route hieß, müsste längst einen anderen Namen tragen: das Westbalkan-Chaos. Ländergrenzen öffnen und schließen sich im Tagestakt. Für die Menschen aus Syrien, Afghanistan und dem Irak wird Timing zum entscheidenden Faktor. Wer vor gut zwei Wochen den kurzen Moment erwischte, als Deutschland die Grenzen öffnete, wurde dort mit Applaus empfangen, von Menschen, die sich Tränen der Rührung aus dem Augenwinkel wischten. Wer später aufbrach, gehört nun zu denen, die an der slowenisch-kroatischen oder der serbisch-ungarischen Grenze mit Tränengas beschossen werden.

2000 Menschen erreichen aktuell jeden Tag von Griechenland aus die Grenze zu Mazedonien. Sie verlassen die EU, um wieder in die EU zu gelangen und in Deutschland, Österreich oder Skandinavien Asyl zu beantragen. Weltweit beachtet wird ihre Reise vor allen Dingen dann, wenn sie gewaltsam ins Stocken gerät.

Am rabiatesten geht bislang Ungarn vor, das sich rasant und kompromisslos einzäunt. Die kleineren und deutlich ärmeren Nachbarländer kämpfen nun mit den Konsequenzen und schwankten zwischen einer Politik des Durchwinkens und dem Versuch, sich durch harte Grenzsicherung als Wächter der EU-Außengrenzen zu empfehlen.

Politiker überschütten sich mit gegenseitigen Anschuldigungen

Die Menschen auf der Flucht stranden durch diese Politik in immer neuen Orten, deren Namen sie nie gehört haben. Mal warten sie auf ausbleibende Essensrationen im mazedonischen Gevgelija, dann hoffen sie im serbischen Prešovo, dass eine Krankenstation für das fiebernde Kind eingerichtet wird, sie schlafen unter freiem Himmel im kroatischen Tovarnik, und in Harmica an der Grenze zu Slowenien versuchen sie, sich einen günstigen Platz in der Schlange zu sichern, sollte die Brücke hinüber ins Schengen-Land geöffnet werden. Für die Politiker der Balkan-Länder ist der massive Anstieg der Flüchtlingszahlen zum Anlass wechselseitiger Anschuldigungen geworden.

Serbiens Präsident, der rechts-nationale Tomislav Nikolić, beschimpfte den kroatischen Nachbarn als "egoistisch". Der serbische Arbeitsminister Aleksandar Vulin kommentierte Kroatiens Entscheidung, sieben der Grenzübergänge zwischen den beiden Ländern zu schließen, sei "völlig unannehmbar". Serbien werde, wenn nötig, seine ökonomischen Interessen vor internationalen Gerichten verteidigen. Denn nicht nur die Menschen kommen nicht über die Grenze, auch die Lastwagen nicht.

Serbien richtet sich auf Winterquartiere für Zehntausende ein

Seit Beginn des Jahres sind 125 000 Flüchtlinge in Serbien angekommen, die allermeisten auf der Durchreise. Viele von ihnen sammeln sich zunächst in den Parks von Belgrad und organisieren von dort aus ihre nächsten Stationen. Doch da dies angesichts der aktuellen Grenzschließungen immer schwieriger wird, rechnet das Land damit, vielen eine Unterkunft für den Winter stellen zu müssen.

Die internationale Flüchtlingsorganisation UNHCR warnte, dass Serbien für die Flüchtenden zur Endstation werden könne, obwohl es über kein zuverlässig funktionierendes Asylsystem verfüge. Die norwegische Regierung sagte Serbiens Premier Aleksandar Vučić am Samstag 3,25 Millionen Euro Unterstützung für die humanitäre Versorgung der Flüchtlinge zu.

Ein Land weiter westlich ist nun auch EU-Mitglied Kroatien zur Sammelstelle für Flüchtlinge geworden. "Wir werden die Menschen auf ihrem Weg nach Europa nicht behindern", sagte Premier Zoran Milanović. Gleichzeitig wolle er nicht, dass sein Land zu einem "Hotspot für die Aufnahme von Flüchtlingen" werde. Seine Bitte an Syrer, Afghanen, Iraker und all die anderen auf der Suche nach einer friedlicheren Heimat: "Bleiben Sie in den Lagern in Serbien, Mazedonien und Griechenland."

Als Ungarn seine Grenzen schloss, hatte Kroatien sich zunächst den Flüchtenden gegenüber großzügig gezeigt, sie seien willkommen. Doch bereits nach 24 Stunden änderte das Land am Donnerstag seine Strategie: Mit einer Ausnahme wurden die Grenzen Richtung Serbien geschlossen. Allein bis Sonntag waren dennoch 21 000 Menschen aus Serbien nach Kroatien gekommen. Die meisten von ihnen konnten von den Behörden nicht mehr registriert werden. Asyl beantragen will bislang in Kroatien buchstäblich niemand. Lediglich eine einzelne Frau mit ihrem kleinen Kind bat um Schutz und darum, bleiben zu dürfen.

5000 Menschen hat Kroatien mit Bussen und Zügen direkt zur ungarischen Grenze gefahren. Die Ungarn ließen die Menschen einreisen, obwohl sie bereits Stacheldraht ausgerollt und das Militär in Position gebracht hatten. Kroatien habe seine Strategie mit Ungarn nicht abgesprochen, beschwerte sich Budapest. Was der kroatische Premier Milanović bestätigte: "Wir haben die Ungarn gezwungen, die Flüchtlinge aufzunehmen, indem wir sie dorthin geschickt haben."

Viele freiwillige Helfer in Serbien und Kroatien

Ähnlich versucht Kroatien an seiner Grenze zu Slowenien zu verfahren. Dort warteten am Sonntag gut 1000 Menschen auf Einlass. Sie wollen das Alpenland durchqueren und weiter nach Österreich. Slowenien allerdings will an einer Einhaltung der EU-Regeln festhalten: keine unregistrierten Grenzübertritte, keine Aufnahme von Menschen, die bereits in einem anderen EU-Land Asyl beantragt haben.

Sloweniens Premier Miro Cerar sagte, die Kroaten würden "ihren Job nicht machen". Es ist im Gespräch, einen Korridor durch Slowenien einzurichten, der eine schnelle Durchreise nach Österreich ermöglichen soll. Zunächst hat jedoch Slowenien alle Zugverbindungen in die kroatische Hauptstadt eingestellt. Am späten Freitagabend setzte die slowenische Polizei sogar Tränengas gegen Flüchtlinge ein, die in der Grenzstadt Harmica versuchten eine Polizeikette zu durchbrechen, um über den Fluss Sutla nach Slowenien zu gelangen.

Die Menschen in Serbien und Kroatien beweisen derweil, dass sie nicht vergessen haben, dass die meisten von ihnen vor 20 Jahren selber auf der Flucht vor Milizen und Bomben waren. Obwohl in diesen Ländern mit hoher Arbeitslosigkeit und niedrigen Löhnen wenig zum Teilen da ist, sind überall Freiwillige auf den Beinen, um den Flüchtlingen zu helfen.

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SZ vom 21.09.2015/mahu
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