Cem Özdemir hat sich ein bisschen verrenkt, aber jetzt geht es steil bergauf, und zwar schnell. Er wisse schon, ruft er noch, was in sozialen Netzwerken daraus gemacht werde: „Jetzt hebt er richtig ab.“ Und dagegen hätte Cem Özdemir, Grüner, derzeit Bundesminister für Landwirtschaft und Ernährung, grundsätzlich erst einmal nichts.
Von der meterhohen Arbeitsbühne eines Lkws aus inspiziert er nun erst einmal ein Hallendach. Özdemir ist dieser Tage unterwegs auf dem Land, Zwischenstopp bei einem Dachdecker in Neustadt-Glewe, Mecklenburg-Vorpommern. Der Dachdecker ist spezialisiert auf Solaranlagen, was schon einmal gut zu einem Grünen passt. Nur, im ländlichen Raum, für den auch Özdemir als Minister zuständig ist, sind die Grünen nicht wohl gelitten. Aber genau dort wird er Stimmen sammeln müssen, wenn er wirklich abheben sollte, nämlich nach Baden-Württemberg.
„Nach dem Sommer wird’s entschieden.“
Nach Annalena Baerbock ist Özdemir der Nächste, der eine Entscheidung zu fällen hat. In Baden-Württemberg wird zwar erst im Frühjahr 2026 gewählt. Aber schon diesen November stellt man dort die Liste für die Bundestagswahl auf. Özdemir, bisher direkt gewählter Abgeordneter im Wahlkreis Stuttgart I, müsste sich also vorher entscheiden, was er will. Will er versuchen, den grünen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann in der Villa Reitzenstein zu beerben, dann kandidiert er nicht wenige Monate vorher für den Bundestag. Und umgekehrt. So jedenfalls wäre der Plan.
Was Özdemir selbst dazu denkt, verrät er noch nicht. „Der Ministerpräsident hat gesagt, nach dem Sommer wird’s entschieden, und er hat meistens recht“, sagt er am Donnerstag im SWR. Er könne sich vorstellen, dass die Entscheidung „auch was“ mit ihm zu tun haben könne. „Alles andere wird man dann sehen, wenn’ so weit ist.“
Dass ihn die Aufgabe reizen würde, daran lässt Özdemir keinen Zweifel. Vom Dachdecker mit seiner Arbeitsbühne reist er weiter zu einer Streuobstwiese, wieder ein dankbarer Termin. Die Sonne scheint, Vögel zwitschern, rundum zufriedene Gesichter.
Der Besitzer erklärt dem Minister seine Apparaturen, mit denen er von Jahr zu Jahr mehr Most produziere. Özdemir sagt „Moscht“ dazu. In seiner Kindheit seien auch Buben und Mädchen zum „Moscht hole“ in den Keller geschickt worden, daran erinnere er sich gut. Allein das wären schon genug Anspielungen, aber um wirklich sicherzugehen, setzt Özdemir in der Runde noch einen drauf. „Nett hier, aber waren Sie schon mal in Baden-Württemberg?“, sagt er beiläufig, den alten Werbeslogan seiner Heimat kenne doch bestimmt jeder. Er stehe ja im Verdacht, überall solche Aufkleber verteilt zu haben, fügt er noch an. Alles klar?
Leicht würde die Operation allerdings nicht, das wird unterwegs schnell deutlich. Özdemir macht auch Station im Wendland, das er noch aus der Zeit der Castor-Demos kennt. Wenn es eine Region gibt, in der Landbevölkerung und Grüne sich nahe waren, dann ist es hier. Mehr als 20 Jahre lang kämpften sie Seite an Seite gegen das geplante Endlager in Gorleben. Die Bauern der Gegend führten mit ihren Traktoren den Widerstand an, am Ende mit Erfolg. Heute rollen die Traktoren gegen den grünen Agrarminister Özdemir.
In Lüchow etwa reitet Özdemir strahlend auf dem Fahrrad ein, er besucht schließlich ein Mobilitätsprojekt in der Ortsmitte. Das Fahrrad ist aber auch so ganz praktisch, man kommt so besser an Blockaden vorbei. Der Busbahnhof steht voll mit Traktoren, die Bauern wollen dem Minister die Meinung sagen. Was sie dann auch tun.
In Lüchow prasselt alles auf Özdemir ein, was den Bauern stinkt
Zwei Jahre lang war die Koexistenz zwischen Özdemir und den Landwirten ganz friedlich. Der Grüne suchte demonstrativ die Nähe zum Bauernverband, seine Eingriffe in die Agrarpolitik gestaltete er minimalinvasiv. Wäre alles so weitergegangen, hätte er ziemlich gut über die Legislaturperiode kommen können. Doch seit aus purer Haushaltsnot die Vergünstigungen beim Agrardiesel weggefallen sind, ist es mit dem Frieden vorbei. Özdemir macht kein Hehl daraus, dass die Agrardiesel-Entscheidung seinerzeit über seinen Kopf hinweg fiel. Aber das macht die Sache für ihn nicht unbedingt günstiger. Und die Hitze der Bauern kühlt es auch nicht.
Auf dem etwas kahlen Busbahnhof jedenfalls prasselt jetzt alles auf Özdemir ein, was den Bauern so stinkt: die strikten Regeln fürs Düngen, das billige Getreide aus der Ukraine, der teure Agrardiesel und das schlechte Wetter auch. Für den Getreidepreis sei der deutsche Landwirtschaftsminister nicht zuständig, wirft Özdemir ein, und im Übrigen versuche er seit zweieinhalb Jahren, ein „prall gefülltes Fass zu leeren, das wir, das gebe ich zu, zum Überlaufen gebracht haben“. Als er fertig ist, applaudieren die Bauern sogar kurz. Aber dann ruft eine Frau aus der vorletzten Reihe: „Noch ein Grund, nie wieder grün zu wählen!“ Warmherzige Empfänge sehen anders aus.
Schwer vorstellbar, dass die Landwirte Özdemir noch mal ins Herz schließen. Und auch sonst hat ein Grüner auf dem Land noch einen weiten Weg vor sich – die besten Ergebnisse erzielte die Partei zuletzt in den Städten. Für Baden-Württemberg, wo sich 60 Prozent selbst als Teil der Landbevölkerung sehen, reicht das nicht. Weshalb Özdemir inzwischen die Strategie verfolgt, sich notfalls von der eigenen Partei abzugrenzen. Bei jeder Gelegenheit, auch vor den Bauern in Lüchow, betont er: erst das Land, dann die Partei. Die Maxime ist nicht ganz neu, auch Willy Brandt hat schon so geredet. Özdemir aber schreibt sie einem anderen zu: Winfried Kretschmann. Schließlich hat der meistens recht.