Süddeutsche Zeitung

Die Grünen:Ein Duo verspricht neuen Schwung

Cem Özdemir und Kirsten Kappert-Gonther kandidieren überraschend für den Fraktionsvorsitz. Wie groß ihre Chancen sind, lässt sich noch nicht klar abschätzen.

Von Robert Roßmann, Berlin

"Herzlich, Eure Kirsten und Euer Cem" steht unter dem Brief, der am Wochenende die grünen Fraktionschefs aufgeschreckt hat. Katrin Göring-Eckardt und Anton Hofreiter stehen seit 2013 gemeinsam an der Spitze der grünen Bundestagsabgeordneten. Am 24. September steht die Neuwahl des Fraktionsvorstands an - und bisher schien es so, als ob erneut niemand gegen die beiden antreten wird. Göring-Eckardt und Hofreiter hatten bei der jüngsten Wahl Anfang 2018 zwar ein ziemlich schlechtes Ergebnis eingefahren. Und verglichen mit Annalena Baerbock und Robert Habeck an der Parteispitze sieht die aktuelle Fraktionsführung eher altbacken aus. Aber die Zwänge der grünen Arithmetik (Frau/Mann - Linke/Realos) hatten Göring-Eckardt und Hofreiter geschützt. Doch damit ist es jetzt vorbei. Kirsten Kappert-Gonther und Cem Özdemir haben überraschend kundgetan, ebenfalls antreten zu wollen. Unterschrieben haben "Eure Kirsten und Euer Cem" den Brief mit grüner Tinte.

Den bisher so geschlossenen Grünen steht damit eine schwierige Personalentscheidung bevor. Dass Özdemir Interesse haben könnte, war zuletzt offenkundig. Der 53-Jährige war - neben Göring-Eckardt - Spitzenkandidat seiner Partei bei der bislang letzten Bundestagswahl und bis Anfang 2018 Grünen-Chef. In einer Jamaika-Koalition wäre er wohl gerne Außenminister geworden. Lange war Özdemir der beliebteste Grünen-Politiker in Deutschland - in seiner eigenen Partei ist er dagegen für manche eine Reizfigur. Und bis zu diesem Wochenende fehlte ihm eine "linke Frau" an seiner Seite. Formal wählen die Grünen ihre Fraktionschefs zwar einzeln. Aber ohne passende Doppelpartnerin hätte Özdemir praktisch keine Chance. Seine Lage ähnelt damit der von Olaf Scholz in der SPD.

"Wir sind überzeugt davon, dass ein fairer Wettbewerb der Fraktion gut tut - nach außen wie nach innen", schreiben Kappert-Gonther und Özdemir in ihrer Bewerbung. Bis zur nächsten Bundestagswahl gehe es darum, auch als kleinste Fraktion im Parlament "mit neuem Schwung der Gegenpol einer schwachen Regierung zu sein". Die Fraktion sei am "schlagkräftigsten", wenn jeder und jede "eine aktive Rolle übernimmt und die eigenen Stärken auch ausspielen kann". Zusammenarbeit solle nicht "Zuarbeit aus fein parzellierten Kleingärten" sein, sondern "ein gemeinsames Einstehen für miteinander entwickelte Projekte". Das wurde auch als Kritik am Stil des bisherigen Führungsduos verstanden. Kappert-Gonther und Özdemir stellen in ihrem Brief außerdem klar, dass sie im nächsten Wahlkampf keine Spitzenkandidatur anstreben - aber dafür gelten ohnehin Baerbock und Habeck als gesetzt.

"Wir treten gemeinsam als Team an, weil wir um unsere unterschiedlichen Stärken wissen", schreiben Kappert-Gonther und Özdemir. "Unsere unterschiedlichen Herkunftsgeschichten, unsere unterschiedlichen Erfahrungen aus einem Rot-Grün-Rot regierten Stadtstaat und einem Grün-Schwarz regierten Flächenstaat bringen wir gemeinsam ein."

Kappert-Gonther war sechs Jahre lang Abgeordnete in der Bremischen Bürgerschaft, bevor sie 2017 in den Bundestag gewählt wurde. In der Grünen-Fraktion ist die Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie Sprecherin für Drogenpolitik und für Gesundheitsförderung. Seit den 80erJahren engagiert sich die 52-Jährige gegen Atomkraft und Rüstung.

Özdemir stammt dagegen aus Baden-Württemberg. 1994 zog er als erster Abgeordneter türkischer Herkunft in den Bundestag ein. Von 2004 bis 2009 saß er im EU-Parlament. Seit 2013 ist er wieder Bundestagsabgeordneter, derzeit leitet er den Verkehrsausschuss. In diesem Amt fühlt Özdemir sich aber offenkundig unterfordert. Wer bei der nächsten Bundestagswahl Fraktionschef ist, ist dagegen automatisch aussichtsreicher Anwärter auf ein Ministeramt. Außerdem schadet ein herausgehobener Posten nicht, wenn man sich dereinst vielleicht als Nachfolger von Winfried Kretschmann als Ministerpräsident in Baden-Württemberg bewerben will.

Wie groß die Chancen von Kappert-Gonther und Özdemir sind, lässt sich noch nicht klar abschätzen. Göring-Eckardt und Hofreiter machten aber schon mal deutlich, dass sie trotz der Herausforderer erneut kandidieren werden.

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Quelle:
SZ vom 09.09.2019
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