Süddeutsche Zeitung

Parteien:Wer den CDU-Vorsitz will, muss Antworten liefern

Kramp-Karrenbauer, Merz und Spahn stellen richtige Fragen. Um das Vertrauen der Wähler zu gewinnen, sollten sie sich an den Grünen orientieren.

Kommentar von Detlef Esslinger

Zwei der Kandidaten für den CDU-Vorsitz stellen viele richtige Fragen - und womöglich offenbaren sie genau damit das Problem. Jens Spahn formulierte seine Fragen diese Woche in einem Zeitungsaufsatz: "Wie verträgt sich Ludwig Erhards Soziale Marktwirtschaft mit einer globalisierten und digitalisierten Welt? Gilt das große Versprechen noch, dass nachfolgende Generationen es besser haben sollen?"

Annegret Kramp-Karrenbauer formulierte ihre Fragen bereits vor einem Dreivierteljahr, bei ihrer Bewerbung um das Amt der CDU-Generalsekretärin: "Was sagen wir der jungen Familie, die zu Recht erwartet, dass sie vom Staat gefördert wird, und zwar egal, wie sie ihr persönliches Zusammenleben organisieren will? Was sagen wir dem Arbeitnehmer, der Angst vor der Digitalisierung hat? Was sagen wir dem, der uns fragt, was tut ihr eigentlich dafür, dass unsere natürlichen Grundlagen erhalten bleiben?"

Alles sehr großartige Fragen. Und nun die Antworten?

Man sollte CDU, CSU und SPD nicht vorwerfen, sie zofften sich in ihrer Berliner Koalition nur. Hier einige Beispiele für das Gegenteil: Sie haben die Musterfeststellungsklage und die Brückenteilzeit eingeführt. Sie arbeiten am Ausbau der Kinderbetreuung, sie wollen Erhöhungen der Wohnungsmieten erschweren. Wie immer man jedes einzelne Projekt bewerten mag: Das meiste, was diese Koalition tut, hat zum Ziel, den Alltag der Menschen zu erleichtern. Es gibt sozusagen einen roten Faden. Trotzdem verstanden viele Wähler die Landtagswahl in Hessen als Gelegenheit, dieser Berliner Koalition einen Denkzettel zu verpassen. 47 Prozent der befragten Hessen gaben an, nicht zu wissen, wofür die CDU eigentlich steht. Und es ist kein Trost für die Partei, dass der SPD dies sogar von 64 Prozent zum Vorwurf gemacht wurde.

Die Suche nach den Gründen für diese Wahrnehmung ist nicht so schwer. Im Januar wird es 100 Jahre her sein, dass Max Weber in einer Buchhandlung in München über "Politik als Beruf" sprach. Zugegeben, es gibt Originelleres, als immer gleich die drei Qualitäten zu nennen, die Weber damals aufstellte: Doch an der Bedeutung von Leidenschaft für die Sache, Verantwortungsgefühl und Augenmaß wird sich nie etwas ändern. Was Weber kurz nach dem Ersten Weltkrieg benannte, waren die Fähigkeiten, die demokratische Politiker immer brauchen, egal, wann und wo. Welche Leidenschaft ist derzeit bei Olaf Scholz erkennbar? Welches Augenmaß noch bei Horst Seehofer?

Indes, eine vierte Fähigkeit muss heutzutage hinzukommen, es ist eine, von der man 1919 allenfalls eine vage Ahnung haben konnte: Kommunikation. Wem es an Leidenschaft, Verantwortungsgefühl und Augenmaß gebricht, der kommt zwar auch mit Kommunikation nicht weit. Doch wer diese nicht beherrscht, dem helfen auch die drei erstgenannten Fähigkeiten wenig. Kommunikation ist viel mehr als nur rhetorisches Geschick - weshalb das Unglück von Union und SPD nicht darauf zurückzuführen ist, dass sie für ihre Wohltaten Ausdrücke wie "Musterfeststellungsklage" und "Brückenteilzeit" erfunden haben (wer bitte könnte spontan und präzise sagen, was das beides ist). Solche Begriffe geben ihnen halt den Rest. Ihrer Kommunikation fehlt die Basis: gedanklicher Unterbau, Haltung, sowie die Courage, zu führen, statt nur zu moderieren.

Norbert Röttgen, der CDU-Politiker und Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag, hat soeben die These geäußert, der gegenwärtige Erfolg der Grünen basiere nicht so sehr auf dem Zuspruch von Kompetenz. Sondern er sei "eine Ausweichreaktion von Wählern", die die Regierungsparteien derzeit für nicht wählbar halten. Röttgen irrt. Man muss die Grünen nicht verklären. Aber sie sind ja keineswegs plötzlich interessant geworden (im Unterschied zu Friedrich Merz). Sondern für ihre Sache zeigen sie seit Jahrzehnten Leidenschaft, Verantwortung, Augenmaß. Was jetzt offenbar so vielen Menschen imponiert, ist das auf Unterbau und Haltung fußende Selbstbewusstsein, Antworten zu riskieren, statt lediglich Fragen zu stellen.

Von den Grünen können viele Christ- und Sozialdemokraten lernen

Neulich auf der Frankfurter Buchmesse diskutierte ihr baden-württembergischer Ministerpräsident Winfried Kretschmann über sein neues Buch. Darin definiert er einen Konservatismus aus Humanität und Ordnung, Freiheit und Sicherheit, Ökonomie und Ökologie. Das Publikum am überfüllten Messestand verhielt sich auf eine Weise, für die der Ausdruck "an den Lippen hängen" erfunden worden ist. Im hessischen Wahlkampf stand ihr Wirtschafts- und Verkehrsminister Tarek Al-Wazir auf der Straße und erklärte, dass Demokratie nicht einfach ein Lieferdienst von Politikern ist: Solange sich täglich 350 000 Menschen im Rhein-Main-Gebiet mit einer Million Tonnen Metall umgäben, um in ihren Autos zur Arbeit zu pendeln, könne niemand von einem Minister erwarten, dass er die Luft wieder rein und das Klima gerettet bekommt.

Von den Grünen können viele Christ- und Sozialdemokraten lernen: Wie man über Haltung seinen Markenkern generiert. Wie man auf dieser Grundlage Orientierung anbietet. Wie man mit einer klaren Sprache auftritt, und dies idealerweise noch gut gelaunt. Sigmar Gabriel ist dieser Tage ein chinesisches Sprichwort eingefallen, das auch recht gut den Erfolg der Grünen und all die Debakel seiner SPD erklärt: Wer nicht lächeln kann, sollte kein Geschäft eröffnen.

Es ist nie gut, wenn ein Mensch keine Fragen mehr hat. Aber wer jetzt meint, zu Merkels Nachfolge berufen zu sein, sollte mehr im Angebot haben als nur einen Katalog von Fragen, die auch vor fünf oder zehn Jahren schon ziemlich dringend waren. Es wird auch nicht mehr reichen, Koalitionsverträge auszuhandeln und danach abzuarbeiten, in der Hoffnung, die Wähler würden den roten Faden dann schon erkennen. "Was sagen wir ...?", fragt Kramp-Karrenbauer. Also: Sie und Spahn und Merz mögen es endlich sagen.

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SZ vom 03.11.2018/bix
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