CDU-Vorsitz:Blackbox Merkel

Die Physikerin im Kanzleramt macht Politik wie ein Algorithmus, ihre Überzeugungen blieben im Dunkeln. Eine persönliche Bilanz.

Gastbeitrag von Thea Dorn

Angela Merkel hat das Ende ihrer Kanzlerinnenschaft so unaufgeregt eingeläutet, wie man es von ihr erwarten darf. Noch immer kann ich mich nicht entscheiden, ob ich dem Ende der Merkelzeit entgegenfiebern oder ob ich jetzt schon anfangen soll, die Bundeskanzlerin zu vermissen.

Thea Dorn

Thea Dorn, 48, ist Schriftstellerin und festes Ensemble-Mitglied im "Literarischen Quartett".

(Foto: Heike Bogenberger)

Wenn ich sie wie zuletzt beim G-20-Gipfel in Buenos Aires sehe, ahne ich, dass ich dem uckermärkischen Felsen nachtrauern werde, der sich nicht aus der Ruhe bringen lässt, wenn das Testosteron aus unterschiedlichen Himmelsrichtungen heranwogt. (Dass Annegret Kramp-Karrenbauer, deren Namen kein ausländischer Staats- und Regierungschef jemals wird korrekt aussprechen können, zum saarländischen Felsen in der Brandung wird, erscheint mir momentan nicht sehr wahrscheinlich. Womöglich hat AKK von ihrer Mentorin gelernt, dass unterschätzt zu werden leider immer noch zu den effektivsten weiblichen Waffen im Machtkampf gehört.)

Wenn ich mir vorstelle, wie Friedrich Merz - oder Jens Spahn - versucht sein wird, die Feuer, die am rechten Rand der Gesellschaft ausgebrochen sind und auf die Mitte übergreifen, mit Öl zu löschen, kommen mir Zweifel, ob sie bessere Brandbekämpfer sein werden als jene Frau, an der sich der Hass in den letzten Jahren bevorzugt entzündet hat. Doch bereits während ich dies schreibe, gerate ich ins Stocken.

Wenn ich Angela Merkel in einem Bereich nachgerade blind vertraue, dann dort, wo es darum geht, ihre eigenen Chancen zu kalkulieren: Wenn Angela Merkel selbst nicht mehr glaubt, dass sie dem Land, dem sie stets "dienen" wollte, noch etwas Gutes tun kann, dürfte ihre Zeit tatsächlich abgelaufen sein. Oder lautete Merkels Kalkül im Sommer, als ihr Entschluss zum geordneten Rückzug von der Macht ja bereits gefallen sein soll, schlicht: "Du hast keine Chance, ein fünftes Mal zur Bundeskanzlerin gewählt zu werden, drum schau beizeiten, wie du dein Haus bestellst"?

Anders gefragt: Ist Merkels Rücktrittsankündigung Ausdruck ihres Verantwortungsbewusstseins? Oder versucht sie, ihre Schäfchen ins Trockene zu bringen, damit ihr in den Geschichtsbüchern immerhin der Triumph bleiben wird, diejenige zu sein, die ein Alphatier aus dem Kanzleramt vertrieben hat, ohne ihrerseits von einem Alphatier vertrieben worden zu sein?

Die Tatsache, dass nun bereits der dritte Satz in Folge mit einem Fragezeichen endet, weist auf das Unbehagen hin, das ich mit Angela Merkel und ihrer Art, Politik zu betreiben, seit Langem verspüre. Der Zauber von Kunstwerken mag in ihrem Rätselcharakter begründet liegen. Eine Regierungschefin, über deren Handeln beziehungsweise über deren Handlungsmotive die Bevölkerung nur rätseln kann, stellt ein Problem dar.

Viel wurde darüber geschrieben, dass Angela Merkel eine "Physikerin der Macht" sei. Gemeint war damit meistens, dass nicht ihr Instinkt es ist, der die promovierte Physikerin so lange an der Macht hält, sondern ihre - in der Tat außergewöhnliche - Fähigkeit zum nüchternen Betrachten, Analysieren und stringenten Schlussfolgern.

An Angela Merkel lässt sich allerdings ablesen, was geschieht, wenn Politik nach den Prinzipien der Naturwissenschaften betrieben wird: Der demokratische Diskussions- und Entscheidungsprozess, das diskursive, argumentative Ringen um die beste Position, wird ersetzt durch die Auswertung von Daten, an deren Ende idealerweise eine Handlungsempfehlung steht, die das Attribut "alternativlos" verdient.

Unter Merkel erlebten wir die Verwandlung der repräsentativen Demokratie in eine Demoskopie

In Interviews hat Merkel immer wieder betont, sie strebe deshalb nach Macht, weil Macht für sie gleichbedeutend sei mit der Chance, eine Gesellschaft zu gestalten. Ich bin mir nicht sicher, ob ich dieses Bekenntnis glaube. Denn setzt der Wunsch zu gestalten nicht voraus, dass die Gestalterin eine einigermaßen präzise Vorstellung davon hat, wie sie etwas gestalten will? Welche Ziele oder Werte sie realisieren will?

Angela Merkel hat in ihrer Kanzlerschaft eine schier gespenstische Positionsflexibilität an den Tag gelegt, siehe Atomausstieg, siehe Abschaffung der Wehrpflicht. Ich vermute, dass die schleichende Verwandlung der repräsentativen Demokratie in eine Demoskopie, die wir unter Merkel erlebt haben, mit ihrer naturwissenschaftlichen Prägung zu tun hat. Was der Physikerin ihre Messergebnisse, sind der Kanzlerin ihre Meinungsumfragen.

Stimmt meine Vermutung, wird aber endgültig unklar, was sich im "Flüchtlingssommer" 2015 im Rechenzentrum der Macht zugetragen hat: Ist der Algorithmus Merkel mit falschen Daten gefüttert worden, die zu dem Schluss führten, die Mehrheit der Bevölkerung tendiere in Richtung "Willkommenskultur"?

Oder trat hinter der Physikerin Merkel plötzlich die Christin Merkel hervor, der alle Messwerte egal waren, weil ihre Überzeugung, dass Menschen im Elend geholfen werden muss, durch keinerlei machttaktische oder politische Einwände zu erschüttern ist?

Gern möchte ich glauben, dass Merkel im Sommer 2015 die protestantische Alternativlosigkeit in sich entdeckt hat, ihr persönliches "Hier stehe ich, ich kann nicht anders". Aber hätte sie dann nicht wie weiland Luther im Namen ihrer Überzeugung unermüdlich predigen müssen? Mit Engelszungen zu den Teilen der Bevölkerung sprechen, die ihre Entscheidung ablehnen, anstatt sich hinter dem gewohnten Panzer aus Floskeln und Schweigen zu verbergen?

Ich merke, wie das ständige Rätselraten über die Motive der Kanzlerin in Zorn umschlägt, und möchte rufen: "Warum, Frau Bundeskanzlerin, sprechen Sie nicht zu uns? Warum erklären Sie sich nicht? Sie sind doch keine KI, keine Blackbox, die einzig Handlungsanweisungen ausspuckt, die das arme, dumme Benutzerlein willig stumm zu befolgen hat!"

Vor sechzig Jahren warnte die Philosophin Hannah Arendt, dass die Übertragung des formelgebundenen naturwissenschaftlichen Denkens auf die Sphäre der menschlichen Belange zum Verlust der Sprache und damit auch zum Verlust des Politischen führen wird. "Taten, die nicht von Reden begleitet sind", schreibt sie, "werden 'unverständlich', und ihr Zweck ist gemeinhin, [...]durch die Schaffung vollendeter Tatsachen alle Möglichkeiten einer Verständigung zu sabotieren."

Ist es nicht genau das, was wir unter Angela Merkel erleben? So wohltuend Merkels Dauernüchternheit in Zeiten wachsender Hysterie erscheint - es ist falsch, wenn die einzige Alternative zu pompös dröhnenden, panischen Faktenverdrehern eine Datenfetischistin ist, der alles Subjektive suspekt scheint. Zeit für einen regierenden Menschen, der das Menschliche nicht als Störfaktor, sondern als Ausgangspunkt, Weg und Ziel der Politik begreift.

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