Die Kanzlerin und der Innenminister haben in ihrem Amtseid geschworen, ihre "Kraft dem Wohle des deutschen Volkes" zu widmen und Schaden von ihm abzuwenden. Doch derzeit ist davon wenig zu spüren. Angela Merkel und Horst Seehofer haben die Union - und damit die gesamte Regierung - durch gewaltiges Führungsversagen in eine desaströse Lage gebracht.
Donald Trump zerstört gerade den Westen, wie man ihn seit dem Zweiten Weltkrieg gekannt hat. In Europa breiten sich die Rechtspopulisten aus. Und auch in Deutschland schwindet das Vertrauen in die Demokratie. Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble hat das kraftvoll beschrieben: Längst nicht mehr alle Bürger seien davon überzeugt, dass das westliche, europäische Modell überlegen sei. Stattdessen würden sie sagen: "Ihr kriegt nix hin." Und was machen Merkel und Seehofer in dieser Lage? Sie riskieren ohne Not, dass die Regierung platzt.
Zurückweisungen an der Grenze gibt es längst
Denn inhaltlich ist der Dissens zwischen Merkel und Seehofer gar nicht so unüberbrückbar, wie oft behauptet wird. Seit dem Flüchtlingsherbst 2015 ist das Asylrecht von Merkels Regierungen in einer Weise verschärft worden, wie noch nie in der Nachkriegsgeschichte. Die CDU-Chefin ist schon lange keine Kanzlerin der Willkommenskultur mehr. Vor zehn Tagen hat sie sogar verkündet, dass abgelehnte Asylbewerber aus Afghanistan wieder ohne Einschränkungen in das Bürgerkriegsland abgeschoben werden sollen.
Auch Zurückweisungen an der deutschen Grenze gibt es längst - im vergangenen Jahr traf das 12 370 Menschen. Beim Krisentreffen im Kanzleramt hat Merkel der CSU angeboten, auch Flüchtlinge, deren Asylantrag in Deutschland bereits abgelehnt wurde, bei einem erneuten Einreiseversuch abzuweisen. Und die Kanzlerin hat sich auch nicht prinzipiell gegen die jetzt von der CSU zur Schicksalsfrage erhobene Forderung aufgelehnt, Flüchtlinge, die bereits in einem anderen europäischen Land registriert worden sind, zurückzuweisen.
Sie hat nur darauf bestanden, dass Deutschland das nicht im Alleingang tut, sondern abgestimmt mit den betroffenen Staaten. Dabei treibt die Kanzlerin aber nicht das Schicksal der Flüchtlinge um, sondern vor allem die Sorge, dass ein nationaler Alleingang die Zusammenarbeit in der EU belasten könnte. Allerdings hat Merkel ihr Verhalten im Herbst 2015 auch nicht europäisch abgestimmt.
Auf der anderen Seite ist sachlich nicht zu erklären, warum Seehofer ausgerechnet an dieser einen Form der Zurückweisung an der Grenze den Konflikt mit der CDU derart zuspitzt. Der Umgang mit diesen Flüchtlingen ist ein Problem, aber wahrlich nicht das größte, das angegangen werden muss. Außerdem hat die CSU gegen gewaltige Widerstände im Koalitionsvertrag "Ankerzentren" und eine Obergrenze durchsetzen können - und damit bereits erhebliche Erfolge erzielt.
Zweite Reihe der Union müsste die Vorsitzenden zur Räson bringen
"Die Demokratie lebt vom Kompromiss, wer keine Kompromisse machen kann, ist für die Demokratie nicht zu gebrauchen" - das war ein Lehrsatz von Helmut Schmidt. Merkel und Seehofer beherzigen ihn nicht, ansonsten hätten sie längst eine Verständigung gefunden. Stattdessen haben sie mit beinahe grenzenloser Bockigkeit - die nur noch mit den Verletzungen zu erklären ist, die sie sich in den Auseinandersetzungen der vergangenen Jahre zugefügt haben - zugelassen, dass die Entscheidung über eine einzige Form der Zurückweisungen für beide zur finalen Glaubwürdigkeitsfrage geworden ist.
In der SPD hat die zweite Reihe die Vorsitzenden Sigmar Gabriel und Martin Schulz auf all ihren Irrwegen gewähren lassen, ohne einzugreifen. Jetzt wäre es an der zweiten Reihe der Union, aus diesem Fehler zu lernen, und die eigenen Vorsitzenden zur Räson zu bringen. Aber in der CSU ist die Reihe hinter Seehofer sogar noch kompromissloser als der Parteichef. Und in der CDU ist der Druck auf Merkel immer noch zu klein. Mutig gegen die eigene Spitze aufzubegehren gehört nicht zu den Kernkompetenzen der Christdemokraten. Und so kriegt die Union derzeit tatsächlich "nix hin" - zum Schaden Deutschlands.