Süddeutsche Zeitung

Thüringen:Neuwahlen in Gefahr

Ende September soll in Thüringen ein neuer Landtag gewählt werden. Zuvor müsste das Parlament sich auflösen. In der CDU-Fraktion regt sich dagegen offenbar Widerstand. Über die neuesten Querelen in Deutschlands einzigem Vier-Parteien-Konstrukt.

Von Ulrike Nimz, Leipzig

Am Donnerstag ging Alarm los im Thüringer Landtag, eine ohrenbetäubende Daueransage, versehentlich ausgelöst von Handwerkern. Die Feuerwehr evakuierte, gab dann Entwarnung. Alarmstimmung herrscht aber weiter auf den Fluren des Erfurter Parlaments. Nicht wegen Brandgefahr, sondern wegen einer Fraktionssitzung der CDU tags zuvor, bei der sich sechs Abgeordnete gegen die geplante Selbstauflösung des Landtages ausgesprochen haben sollen, die Voraussetzung für Neuwahlen. So berichtete es zuerst die Thüringer Allgemeine.

Das ist in mehrfacher Hinsicht ein Problem: Für die CDU, weil nach der Spendenaffäre um den Suhler Bundestagsabgeordneten Mark Hauptmann erneut Ungemach ins Haus steht. Für Linke, SPD und Grüne, weil der "Stabilitätspakt", der die befristete Zusammenarbeit der rot-rot-grünen Minderheitskoalition mit den Christdemokraten regelt, torpediert würde.

Die Vereinbarung, mühsam ausgehandelt in den langen Nächten nach der Wahl des FDP-Mannes Thomas Kemmerich zum Kurzzeitministerpräsidenten, kommt einer Duldung gleich und sieht unter anderem vor, dass der Thüringer Landtag im Juli aufgelöst wird, um binnen 70 Tagen die Neuwahl des Parlaments zu ermöglichen. Dafür ist die Zustimmung von 60 der 90 Abgeordneten nötig. Linke, SPD, Grüne und CDU kommen auf 63 Stimmen.

Sechs Abweichler würden eine Zweidrittelmehrheit gefährden - und damit die Neuwahl. Denn die FDP will sich raushalten, die AfD lehnt Neuwahlen ab. Als letzte Option bliebe Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linke), die Vertrauensfrage zu stellen - und zu verlieren.

Voigt: "Wir werden uns verständigen"

Ursprünglich sollte in Thüringen Ende April gewählt werden, doch die Pandemie machte eine Verschiebung des Termins sowie die Verlängerung der De-facto-Tolerierung nötig. Mario Voigt, CDU-Fraktionschef und Spitzenkandidat für die Landtagswahl, ist nun bemüht, die Wogen zu glätten. "Wahl und Wahltermin sind verabredet und werden kommen. Die Bürger erwarten das", erklärte er via Twitter. "Sofern es intern noch Redebedarf gibt, werden wir uns dazu verständigen."

Geht es nach Voigt, handelt es sich um kaum mehr als eine fraktionsinterne Zankerei. Seit er nach dem Wahl-Eklat vor einem Jahr den Fraktionsvorsitz vom gestrauchelten Mike Mohring übernahm, setzt er viel daran, das Bild einer geschlossenen, konstruktiven Opposition zu wahren. Doch auch wenn Voigt gern von Neuanfang spricht - das Personal ist noch dasselbe, das am 5. Februar 2020 gemeinsam mit der AfD stimmte, Fehden und Allianzen haben überdauert. So sollen die Abtrünnigen zum ehemaligen Fraktionsvorstand unter Mohring gehören, dessen Verhältnis zu Voigt als mindestens belastet gilt. Auf Anfrage wollte sich zunächst niemand der Abgeordneten äußern. Klar ist jedoch, dass die CDU durch Neuwahlen wenig zu gewinnen hat. In der jüngsten Umfrage liegt die Partei mit 19 Prozent hinter Linken und AfD.

Anders als eine Ministerpräsidentenwahl würde die Abstimmung über die Landtagsauflösung offen stattfinden. Jemand wie Mohring, der für den Bundestag kandidiert und Mitglied im CDU-Bundesvorstand ist, könnte seinem Nachfolger kaum vor aller Augen in den Rücken fallen. "Wir haben in der Vergangenheit gezeigt, dass wir zum Stabilitätspakt stehen. Daran wird sich nichts ändern", versichert Voigt.

Doch die Partner im beispiellosen Vier-Parteien-Konstrukt zweifeln. Steffen Dittes, Fraktionschef der Linken, sagt: "Wenn ein Drittel der CDU-Fraktion in einer Gremiensitzung ankündigt, gegen eine gültige Vereinbarung zu verstoßen, dann ist das mehr als eine interne Meinungsverschiedenheit. Dann müssen wir uns fragen: Handelt Mario Voigt noch im Namen seiner Fraktion?" Man erwarte ein Bekenntnis zur politischen Verantwortung. "Mit einem Tweet ist es nicht getan."

"Da fürchten offenbar Abgeordnete um ihr Mandat", sagt Diana Lehmann, Parlamentarische Geschäftsführerin der Thüringer SPD. Sie spricht von gestörtem Vertrauen. Vor der Kemmerich-Wahl sei eine Minderheitsregierung unter Tolerierung der Christdemokraten denkbar gewesen. Inzwischen hält Lehmann selbst eine Neuauflage des Stabilitätspaktes für ausgeschlossen. "Wir brauchen den Neuanfang für dieses Parlament."

Nur sieht es danach ganz und gar nicht aus. Seit der Landtagswahl 2019 hat sich in Thüringen wenig an den Mehrheitsverhältnissen geändert: Für Rot-Rot-Grün reicht es knapp nicht, die AfD ist trotz Beobachtung durch den Verfassungsschutz stabil. Die Regierungsbildung könnte sich erneut vertrackt bis unmöglich gestalten - falls es denn zu Neuwahlen kommt.

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