Süddeutsche Zeitung

Digitaler Parteitag:Die CDU wählt, das Internet schaut zu

Der Parteitag war auch ein virtuelles Sozialexperiment - und hier liegt Laschet ebenfalls vor Merz. Die Online-Begleiter der CDU haben aber noch ganz andere Joker entdeckt.

Von Viktoria Spinrad

Mehr als 600 Kilometer liegen zwischen Berlin und Sinzig. Wer die pittoreske 17 000-Einwohner Stadt am Mittelrhein besuchen möchte, fährt mit dem ICE nach Köln und bummelt von dort noch ein Stündchen rheinaufwärts mit dem Regionalzug weiter. Aber am Samstag will sich die Verbindung nicht so recht herstellen lassen zwischen den beiden Städten. In der Berliner Messe läuft beim CDU-Parteitag die digitale Fragestunde, Hans-Werner Adams ist zugeschaltet, 1000 Delegierte und noch viel mehr Beobachter warten auf seine Frage. Doch der Delegierte aus Sinzig bleibt stumm. Und avanciert danach zum heimlichen Star des Tages.

Alle wollen den drollig wirkenden Mann von der Basis reden hören. Auf Twitter suchen sie ihn per Mega-Satellitenschüssel, schreien sich die virtuelle Kehle aus dem Hals: Herr Aaaaadams? Zwischenzeitlich schafft er es zum drittbeliebtesten Suchbegriff des Abends. Und viele fragen sich: Was der wohl fragen wollte?

Das erfährt man freilich zunächst nicht. Dieses virtuelle Sozialexperiment, einen neuen CDU-Chef am Bildschirm wählen und das Internet dabei zuschauen zu lassen, hat übrigens erstaunlich gut funktioniert. Während die Twittergemeinde den mysteriösen Mann ohne Stimme prompt zum vierten Kandidaten, ach, neuen Kanzler emporklatscht, ernten zwei deutlich weniger Verständnis, um die es eigentlich geht.

Jens Spahn und sein verbales Cheerleading nehmen ihm so manche übel

Einer davon: Friedrich Merz. Auslöser ist sein Statement, er könne gar kein Frauenproblem haben, sonst hätte ihn seine Frau nicht geheiratet und seine Tochter ihm längst die gelbe Karte gezeigt. Das geht prompt nach hinten los: Die Häme ist groß. "Gestrig", "peinlich", "genau das ist das Problem", urteilen die Twitter-Richterinnen und Richter. Und seine vermeintliche weibliche Fan-Base, die "Frauen für Friedrich Merz"? Schweigt, der Hashtag ist längst von Merz-Verhinderern gekapert.

Apropos gekapert: Mindestens ebenso übel nehmen die Twitterer Jens Spahn sein verbales Cheerleading für Team-Kompagnon Laschet in der Fragerunde. Während die einen noch humoresk vom "Telefonjoker" sprechen, kritisieren andere die Aktion als "unfairen Move" und "Taschenspielertrick". Zu Hilfe eilt Jan-Marco Luczak, Berlin-Chef der CDU: Für den Teampartner zu werben, finde er in Ordnung, schließlich folgten auf normalen Parteitagen ja auch nicht nur Fragen, sondern eine Aussprache.

Und Laschet, der Versöhner aus Aachen? Während sich auf Twitter einer fragt, ob Karneval nun zur Bürgerpflicht werde, postet ein anderer eine Merkel-Gestalt mit Laschet-Gesicht und der Wahlgewinner geistert als feenähnlich glitzernde Kanzlerin durch Netz. Inklusive Fingerraute! Kein Wunder, gilt Laschet doch als die personifizierte Fortsetzung des Merkel-Kurses.

Tatsächlich ertönen nach Laschets Wahl in den sozialen Medien keine verbalen Fanfaren. Es ist eher eine Mischung der obligatorischen Glückwünsche von politischen Freunden und respektzollenden Kolleginnen und Kollegen aus anderen Parteien, gewürzt mit Stänkereien aus der AfD. Aber viele scheinen vor allem erleichtert, dass Merz verhindert wurde. Ein Tweet zieht einen Fußballvergleich, der die Stimmung ganz gut zusammenfassen dürfte:

Und während der erbarmungslose Hashtag #merzverhindert am Samstagnachmittag Fahrt aufnimmt, findet dessen kurzfristiger Vorstoß auf den Chefsessel im Wirtschaftsministerium polemische Nachahmer. Er habe Laschet angeboten, sich auf dessen Geburtstagsparty einzuladen, lästert einer. Er habe dem Kaiser von China angeboten, Drogenbeauftragter von Venezuela zu werden, fabuliert ein anderer.

Auffällig ruhig ist es derweil um Markus Söder, den Joker der Union. Abgeschrieben hat ihn das Netz jedenfalls noch nicht: Mal erscheint er als klappstuhltragender Eindringling, mal als mit den Grünen liebäugelnde Fantasy-Gestalt. Eine gute Figur macht er bei diversen Twitter-Umfragen. Dort wetten die User schon mal auf ihn als Kanzlerkandidaten.

Und der verstummte Herr Adams? Meldet sich nach der Wahl in den Medien dann doch noch zu Wort. Man erfährt: Er wollte zu einer ganzheitlichen Betrachtung von Wirtschafts-, Sozial- und Umweltpolitik aufrufen. Und: Das Problem mit der Technik müsse "irgendwo im CDU-Hause" gelegen haben. Die Social-Media-User ist das ein Signal, ihm künftig eine angemessene Rolle in der Politik zuzusprechen: Auf Twitter gilt Adams jetzt als heißer Tipp für das Amt des Digitalministers.

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