Auf Jens Spahn rollt neue Arbeit zu. Wenn Bundeskanzlerin Angela Merkel an diesem Mittwoch ihre erste Kabinettsitzung nach dem Urlaub leitet, wird sie dem Gesundheitsminister von ihrem Gespräch mit einer Bürgerin in Stralsund am Dienstagnachmittag erzählen. Die Frau führt einen Pflegedienst und beklagt, dass sie seit fünf Jahren trotz steigender Kosten für Personal und Hilfsmittel in der Intensivpflege noch immer dieselbe Vergütung bekomme. Um rund 16 Prozent seien ihre Ausgaben in dieser Zeit gestiegen, aber die Krankenkassen legten keinen Cent obendrauf. "Wir sind kurz vor dem Kollaps", sagt die Frau. Die Kanzlerin fragt ein paarmal nach und verspricht dann: "Ich nehme es auf und versuche morgen früh schon, es einzuspeisen."
Angela Merkel ist zurück aus dem Urlaub. Und die Probleme sind auch wieder alle da. Bei der Ostsee-Zeitung in Stralsund stellt sich die Kanzlerin das erste Mal der Öffentlichkeit, 200 Bürgerinnen und Bürger können dabei sein, in 90 Minuten reicht es zu knapp 20 Fragen, Interessierte können die Veranstaltung im Livestream verfolgen. Stralsund liegt in Merkels Bundestagswahlkreis, einmal hat sie die Stadt sogar dem damaligen amerikanischen Präsidenten George W. Bush vorgeführt. Diesmal hat Merkel nach ihren Ferienaufenthalten in Bayreuth, Südtirol und Salzburg nur eine Erkältung mitgebracht.
Merkel steht vor dem 14. Herbst ihrer Kanzlerschaft, aber noch nie war der Ausgang so ungewiss. Für die Landtagswahlen in Sachsen und Brandenburg in knapp drei Wochen gibt sich Merkel mit Blick auf die CDU eher pflichtgemäß optimistisch. Über Konsequenzen für die große Koalition in Berlin will sie nicht spekulieren. Vom sozialdemokratischen Vizekanzler und den anderen SPD-Führungsleuten höre sie jedenfalls nicht, dass sie die Koalition verlassen wollten. Im übrigen gelte: "Wir können doch nicht jeden Morgen aufstehen und überlegen: Steigen wir aus?", sagt Merkel, "es gibt genug zu tun." Das sind Sätze, die in solchen Foren stets Applaus garantieren - außer bei einem Zuhörer in einer vorderen Reihe.
Der ältere Herr findet, dass Merkel das Land im Namen der Toleranz in eine Diktatur geführt habe. Artikel 1 des Grundgesetzes, die Unantastbarkeit der Menschenwürde, gelte nicht mehr, wenn man sich zur AfD bekenne. Merkel weist den Herrn darauf hin, dass er alles sagen und fragen dürfe, ohne gefährdet zu sein, was ja bereits Ausdruck seiner Freiheit sei. Und auch im Bundestag habe sie nicht den Eindruck, dass die Abgeordneten der AfD und anderer Parteien "Hemmungen haben, mir ihre Meinung zu sagen". Starker Applaus im Publikum.
Merkel wirkt aufgeräumt und entspannt
Eine zündende neue Idee zu einem großen Thema scheint Merkel im Urlaub nicht gekommen zu sein, oder sie will sie noch nicht verraten. In der Migrations- wie in der Klimapolitik analysiert sie eher die Problemlage, als dass sie Lösungen beschreibt. Einem Schüler gelingt es, die sonst stets detailfeste Kanzlerin mit der Frage zu verunsichern, ob auch Wasserstoffantriebe in Deutschland finanzielle Förderung erhalten (tun sie). Der Leiter des Redaktions-Netzwerks Deutschland, Gordon Repinski, bewirkt langes Zögern bei Merkel, als er wissen will, ob Greta Thunberg mehr für den Klimaschutz bewirkt habe als die Kanzlerin selbst. Sie sei ein "außergewöhnliches Mädchen, das sehr viel ins Rollen gebracht hat", antwortet Merkel schließlich.
Für wie außergewöhnlich Merkel noch ihre Nachfolgerin im CDU-Vorsitz, Annegret Kramp-Karrenbauer, hält, weiß man nicht so genau. Fest steht, dass außergewöhnlich viel Arbeit auf sie zukommt. Einem erkennbar unzufriedenen Berufssoldaten erklärt die Kanzlerin die Berufung Kramp-Karrenbauers zur Verteidigungsministerin mit dem zusätzlichen Gewicht, das man als CDU in diese Aufgabe legen wolle. Zu allerlei Spekulation und Interpretation könnte freilich noch das lächelnd vorgetragene Bekenntnis Merkels führen, sie lese "jedes Wort von Annegret Kramp-Karrenbauer ganz genau und spreche auch oft mit ihr".
Insgesamt wirkt Merkel aufgeräumt und entspannt, auch persönliche Fragen beantwortet sie sorgsam. Sie verstehe, wenn Menschen wie nach den Zitteranfällen Anteil nähmen, aber auch Fragen stellten. Sie habe die Pflicht, "einzuschätzen, ob ich meine Aufgaben wahrnehmen kann". Und das tue sie auch. Nach dem Ende ihrer Kanzlerschaft werde sie ein politischer Mensch bleiben, aber "kein aktives politisches Amt mehr ausüben". Sie sei Ende 1989 in die Politik gegangen, gut 30 Jahre lägen nun hinter ihr, und man könne kaum sagen, "das war nur ein Schnupperkurs". Alles habe seine Zeit. An dieser Stelle zeigt sich im übrigen, dass auch Merkels gelegentlich sehr besondere Art zu formulieren, gut erholt aus dem Urlaub zurückgekommen ist: "Ich will jetzt nicht ausschließen", sagt die Kanzlerin nämlich noch, "wenn mich jemand einlädt, irgendwo was zu sprechen, dass ich dann darüber noch rede."
Eine echte kleine Überraschung hält die Kanzlerin dann doch noch bereit, als sie gefragt wird, was in 50 Jahren im Geschichtsbuch über sie stehen solle. Normalerwiese weicht sie an dieser Stelle aus und überlässt das Urteil den Historikern. Diesmal aber bedient sie sich bei Willy Brandt. Seinen Satz: "Man hat sich bemüht", von dem oft fälschlich behauptet wird, er stehe auf dem Grabstein des Ex-Kanzlers, wandelt Merkel nun für sich ab: "Sie hat sich bemüht."