CDU:Der deutsche Konservatismus hat sich erschöpft

Angela Merkel (CDU) beim CDU-Parteitag

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) nach ihrer Rede beim CDU-Bundesparteitag.

(Foto: dpa)
  • Biebricher befasst sich in seinem Buch "Geistig-moralische Wende" mit dem deutschen Konservatismus seit den frühen Achtzigerjahren.
  • Dessen inhaltliche Unbestimmtheit lasse sich dabei nicht, wie oft zu hören ist, allein auf die Person Angela Merkel zurückführen.
  • Die Auszehrung habe vielmehr in den Achtzigern begonnen.

Rezension von Isabell Trommer

Als Helmut Kohl am 13. Oktober 1982 seine erste Regierungserklärung hält, malt er ein Land in einer umfassenden Krise: Wachstumskrise, Beschäftigungskrise, Staatsfinanzkrise. In dieser Situation sei ein historischer Neuanfang nötig, der sich nicht in wirtschaftspolitischen Maßnahmen erschöpfen könne. "Tugenden der Klugheit, des Mutes und des Maßes für die Zukunft unseres Landes" seien gefragt. Er beschwört eine Koalition der Mitte; Freiheit, Dynamik und Selbstverantwortung müssten sich entfalten: "Wir vertrauen auf den Bürger, der seine Zukunft in seine Hände nimmt." Die Sozialpolitik hingegen brauche eine Atempause.

Helmut Kohl war lange an der Macht. Die "geistig-moralische Wende" gilt als ein, wenn nicht das Motto seiner Kanzlerschaft. Auch wenn sie in seiner Erklärung nicht wörtlich auftaucht, war sie doch gegenwärtig. Sei die Tugendwende erst einmal geschafft, sei auch die ökonomische Wende nicht mehr fern. Er wollte den mit Wirtschaftswunder und Wiederaufbau verbundenen Geist von 1948, so deutet der Politologe Thomas Biebricher den Kanzler, gegen den Geist von 1968 mobilisieren. Da unklar blieb, was genau unter einer solchen Wende zu verstehen sei, weiß niemand zu sagen, ob sie stattgefunden hat. In jedem Fall kam Kohl so der konservativen Wählerschaft entgegen.

Biebricher befasst sich in seinem Buch "Geistig-moralische Wende" mit dem deutschen Konservatismus seit den frühen Achtzigerjahren. Dabei verbindet er Parteien- mit politischer Ideengeschichte. Er untersucht sowohl die Politik der CDU von Kohl bis Merkel als auch das konservative Denken der Bundesrepublik. Zunächst aber setzt er bei Edmund Burke an, dem Stammvater des Konservatismus, der angesichts der Französischen Revolution die "natürliche Ordnung", einen hierarchischen Gesellschaftsaufbau und die stabilisierende Kraft der Kirche hochhielt.

Angela Merkel, ist oft zu hören, sei schuld an der Entkernung

Der deutsche Konservatismus habe sich, so Biebrichers These, erschöpft. Seine inhaltliche Unbestimmtheit lasse sich dabei nicht, wie oft zu hören ist, allein auf die Person Angela Merkel (den Atomausstieg oder das Ende der Wehrpflicht) zurückführen, die Auszehrung habe vielmehr in den Achtzigern begonnen. Eine "Sozialdemokratisierung" der Union und mangelnder Reformwille wurden bereits damals beklagt. Wie so vieles hat auch dieses Lamento seine Tradition.

Ein Teil des Problems liegt laut Biebricher in der Weltanschauung selbst begründet. Der Konservatismus konkretisiere sich in dem Moment, in dem er herausgefordert werde. Sein Anliegen sei recht kompliziert: in einer sich wandelenden Welt den Status quo zu bewahren. Im Grunde komme der Konservatismus immer zu spät. Er wolle das Bestehende retten, wenn es im Vergehen begriffen sei. Biebricher unterscheidet dabei zwei Dimensionen des Konservatismus, die sich in der Realität vermengen: Dem substanziellen Pol sei an der Verteidigung einer bestimmten Ordnung gelegen, der prozedurale erkenne den Wandel als unvermeidlich an, wolle ihn lediglich moderierend gestalten.

CDU: Thomas Biebricher: Geistig-moralische Wende. Die Erschöpfung des deutschen Konservatismus. Matthes & Seitz, Berlin 2018. 320 Seiten, 28 Euro.

Thomas Biebricher: Geistig-moralische Wende. Die Erschöpfung des deutschen Konservatismus. Matthes & Seitz, Berlin 2018. 320 Seiten, 28 Euro.

Kaum eine andere Partei ist so stark vom Wechselspiel zwischen Modernisierung und Tradition geprägt wie die CDU. Man wollte den Fortschritt, um dann kulturpessimistisch über die gesellschaftlichen Folgen zu klagen. Der Konservatismus der Achtziger habe zwar, so Biebricher, die Geschichte beschworen und Symbolpolitik betrieben, entscheidend sei aber gewesen, dass er sich endgültig "zum Anwalt der Modernisierung" aufschwang.

Auch Kohl galt einmal als frischer Wind. Bevor die Rede vom Reformstau aufkam, war er der Reformer. Tatsächlich hatte er die CDU zu einer Mitgliederpartei gemacht. Zu Beginn der Achtziger war die Stimmung dann trüb. Die Ölkrisen wirkten nach, Strukturwandel, Waldsterben und Zukunftssorgen, Sicherheitsfragen, Debatten über die "Ausländerpolitik" und eine Fülle an Skandalen prägten die Zeit.

Kohls CDU wirkte wirtschaftspolitisch unentschlossen

Mit der Fiskalpolitik der sozial-liberalen Vorgängerkoalition habe Kohl, wie der Autor zeigt, nicht grundsätzlich gebrochen. Er verband, könnte man hinzufügen, Wertkonservatismus mit einer optimistischen Technik- und Zukunftsorientierung. Programmarbeit war nie die Königsdisziplin der CDU, und Kohls aufs Persönliche setzende Führung war nicht dazu angetan, das zu ändern.

So senkte er zwar die Staatsquote und tat etwas für die Familien, eine Steuerreform kam dazu. Dennoch wirkte die Partei wirtschaftspolitisch unentschlossen. Der konservative Flügel war Mitte der Achtziger enttäuscht von der Regierungspolitik. Und auch konservative Intellektuelle beschwerten sich bald: Der Philosoph Günter Rohrmoser erklärte die Politik der "Wende" 1984 für gescheitert.

In den späten Achtzigern geriet Kohls Kanzlerschaft in die Krise. Das Nebeneinander von altem Rechtskonservatismus (Dregger, Lummer, Jäger) und neuem Reformkonservatismus (Süssmuth, Geißler, Biedenkopf) gelangte an sein Ende. Eine andere Wende, die Wiedervereinigung, kam Kohl zur Hilfe und schon bald setzte die nachholende Neoliberalisierung der Christdemokratie ein. Den Höhepunkt erreichte sie unter Merkel auf dem Leipziger Parteitag 2003.

Biebricher macht deutlich, dass die Erschöpfung konservativer Positionen auch mit gesellschaftlichen Entwicklungen zu tun hat: der Liberalisierung, der Entfremdung von zivilgesellschaftlichen Verbündeten wie den Kirchen, dem Verschwinden einst integrativ wirkender Feindbilder, dem Bedeutungsverlust konservativer Intellektueller. Während neokonservative Denker wie Arnold Gehlen und Helmut Schelsky, die sich für institutionelle Stabilität und staatliche Autorität einsetzten, einst in der Öffentlichkeit eine große Rolle spielten, sind solche Wortmeldungen seit Mitte der Neunziger kaum mehr zu vernehmen. Der intellektuelle Neokonservatismus war vielgestaltig. Auffällig ist, dass neben Klagen über Werteverfall und Fortschritt seit den Sechzigern Positionen an Bedeutung gewannen, die die Frontstellung gegenüber der Technik räumten. Weniger ambivalent als Vertreter eines technokratischen Konservatismus verkündete Kohl 1982, er wolle der "Anwendung moderner Techniken" den Weg freigeben.

Haushaltsdisziplin als letzter gemeinsamer Nenner

Wer sich Wachstum und dynamisches Unternehmertum auf die Fahnen schreibt, muss mit Auswirkungen auf traditionelle Lebensmodelle rechnen. Die Veränderung der Welt, wie der Konservatismus sie einst kannte, ließ eine auf Familie, Religion und Hierarchien setzende Ideologie an Plausibilität verlieren.

Heute scheint die Haushaltsdisziplin der letzte gemeinsame Nenner der Unionsparteien zu sein - hier sei Kohls Moralisierung des Ökonomischen erfolgreich gewesen, wie Biebricher resümiert. Solides Krisenmanagement sei nun ihr Markenkern. Wo der Konservativismus sich nicht erschöpft habe, sei er verflacht oder wirke aufgesetzt; das zeigt Biebricher am Beispiel von Jens Spahn. Nun könne die CDU den Weg eines prozedural verengten Liberalismus weiterverfolgen, ja zuspitzen und sich ganz der postideologischen Moderation verschreiben. Das habe aber auch Tücken: Ein zum Management verkommener politischer Betrieb könne die Menschen nicht an sich binden. Für die Demokratie sei das folgenschwer, und der AfD könne das zu weiterem Aufschwung verhelfen.

Thomas Biebricher verbindet in diesem Buch klug und elegant Zeit- mit politischer Ideengeschichte. Der größte Vorzug liegt darin, dass er auf Kontinuitäten und langfristige Entwicklungen verweist, die in der Hitze gegenwärtiger Debatten in Vergessenheit geraten sind. Nicht alles war schon einmal da und nicht alles folgt den gleichen Mustern - dennoch: Der unaufgeregte und lange Blick erstellt ein präzises Bild der Lage und ihrer Vorgeschichte.

Das macht dieses Buch so brisant. Nicht nur, wer mal konservativ war, es ist oder vorhat, es zu werden, sollte es lesen.

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