So laut bläst selten eine Opposition zur Attacke. Gleich dreimal werfen SPD und FDP der nordrhein-westfälische Regierung Verfassungsbruch vor; mit Tricks und arg kreativen Begründungen habe sich die schwarz-grüne Koalition in Düsseldorf fünf Milliarden Euro mehr für 2023 ermogelt, als ihr laut Gesetz und Schuldenbremse zustünden. Liberale und Sozialdemokraten wähnen die Haushaltsregeln - "das Königsrecht des Parlaments" - verletzt, sehen den Landesherren in der Verantwortung. Doch der schweigt. Hendrik Wüst weilt im vorösterlichen Kurzurlaub, für Nachfragen bittet die Staatskanzlei, das Finanzministerium zu bemühen.
So geht es öfter zu am Düsseldorfer Rheinufer. Schon im November und Dezember, als Wüst und sein Finanzminister Marcus Optendrenk (beide CDU) bei der Suche nach dem Geld gleich zweimal eine Ohrfeige vom Landesrechnungshof kassierten, bewies der Ministerpräsident die Gabe, sich politisch unsichtbar zu machen: Der brave Knappe Optendrenk musste Hohn und Spott im Landtag ertragen, derweil plauderte Wüst mit seiner grünen Stellvertreterin Mona Neubaur. Oder er starrte aufs Handy.
Vier Tage vor Weihnachten meldete sich Wüst dann zu Wort im Parlament, räumte vage ein, man habe "reagieren, nachjustieren und es besser machen" müssen - um dann zu mehr Klima- und Kinderschutz zu mahnen. Und zu mehr Keksen: "Der Teller mit Plätzchen vor der Tür der alleinerziehenden Mutter" - das sei eine Geste, die nicht viel Mühe erfordere.
Wüst sei "viel Schein, wenig Sein", sagt FDP-Fraktionschef Henning Höne
Die Opposition tobte, damals wie heute. SPD wie FDP schimpfen, solcherlei Wegducken bei Problemen sei längst typisch. Das habe Methode bei Wüst. "Der Ministerpräsident tut so, als habe er mit dem Ganzen nichts zu tun", ärgert sich der FDP-Fraktionschef Henning Höne, und das geschehe "in dem Bestreben, die Landespolitik zu entpolitisieren". Wüst sei "viel Schein, wenig Sein". NRW werde zwar "repräsentiert, aber nicht wirklich regiert". Schon vor Monaten blies SPD-Fraktionschef Thomas Kutschaty ins selbe Horn. Wüsts Berater engagiere oft eigene Fotografen für viele nette Bilder. Aber, so polterte der Genosse, das ersetze nicht Ergebnisse: "Sie sind ein Insta-Präsident, aber kein Ministerpräsident!"
Nur, die Methode Wüst funktioniert. Jedenfalls für Wüst: Eine Forsa-Umfrage bescheinigte dem 47-jährigen Westfalen soeben 52 Prozent Zustimmung unter den NRW-Bürgern; wäre jetzt Landtagswahl, läge seine CDU mit 38 Prozent der Stimmen 18 Punkte vor der SPD. Eine Umfrage des Nachrichtenportals "The Pioneer" kürte Wüst kürzlich zum populärsten Landeschef der Republik.
Wüst agiert stets bedacht, strikt risiko-aversiv. Privat zeichnet ihn schlagfertiger Witz aus. Öffentlich jedoch wägt er jede Silbe, weshalb seine Worte oft in Stücke zerfallen. Wüst klingt dann, als läse ein Automat vom Blatt. Doch diese Strategie strikter Fehlervermeidung zahlt sich aus, Wüst wird für Höheres gehandelt. Aus Berlin kolportiert der "Hauptstadtbrief", Wüst schicke sich längst an, Kanzlerkandidat der Union zu werden. Einzige Frage: "Übermorgen, morgen oder schon heute?"
Die Bilanz der ersten neun Monate unter Schwarz-Grün fällt eher mager aus
Ob die Methode Wüst sich auch fürs Land auszahlt, muss sich noch zeigen. Die Bilanz der ersten neun Monate unter Schwarz-Grün fällt jedenfalls magerer aus als der Ertrag der ersten 100 Tage der schwarz-gelben Koalition unter Armin Laschet 2017: Wüsts Vorgänger verordnete damals sofort eine Schulreform, stockte die Polizei auf, liberalisierte Industrie und Handwerk. Diesen Vergleich bestätigt (strikt anonym) sogar mancher Parteifreund: "Und Laschet wäre gelyncht worden, wenn er sich so ein Chaos beim Haushalt erlaubt hätte wie Wüst", sagt ein CDU-Landtagsabgeordneter. Bisher sei man als CDU "gut davongekommen - und allemal besser als die Grünen".
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Tatsächlich musste während der ersten neun Monate der "Avocado-Koalition" meist der kleinere Partner die Kohlen aus dem Feuer holen. Für die Unterbringung von 220 000 Ukrainerinnen im Bundesland ist Josefine Paul zuständig, grüne Ministerin für Flucht und Integration. Wut und Hass der Klimabewegung nach der Räumung des Symboldorfes Lützerath musste allein Mona Neubaur aushalten, grüne Ministerin für Energie und Klima (Wüst soll ihr, so ist im Landtag zu hören, dafür aus dem Off gedankt haben).
Und der grüne Verkehrsminister Oliver Krischer muss nun den Kopf hinhalten für eine Entscheidung des damals zuständigen Landesbetriebs Straßen NRW, Abriss und Neubau der maroden Rahmede-Talbrücke um sieben Jahre zu vertagen. Inzwischen ist das Bauwerk einsturzgefährdet, die Region um Lüdenscheid erstickt im Stau. Ein Untersuchungsausschuss des Landtags soll nun aufklären, ob oder wann der damalige CDU-Verkehrsminister von dieser Fehlentscheidung der Bauingenieure erfuhr. Sein Name: Hendrik Wüst.
Bei anderen Problemen - erst Corona, inzwischen Teuerung und Gas-Rechnung - zeigt Wüst übrigens gern nach Berlin. Auf die Ampel, die müsse das lösen. Und siehe da, auch das hilft ihm: So profiliert sich der Landes-Chef als Stimme der Opposition im Bund.