Süddeutsche Zeitung

CDU:Ein Mann mit eigenem Kopf

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Norbert Blüm gab sich nie zufrieden mit den Gewissheiten der politischen Lager. Das ließ er auch die Parteifreunde spüren - und bewahrte doch immer seinen Humor.

Von Detlef Esslinger

Ein Mittagessen im Sommer vor drei Jahren in Bonn, der Tag nach der Trauerfeier für Helmut Kohl. Norbert Blüm war dazu nach Speyer gefahren, zusammen mit Heiner Geißler, seinem alten Freund. Geißler wollte eigentlich nicht, Blüm unbedingt. Aber bitte auf keinen Fall alleine. Also ein Kompromiss: In den Dom gehen wir, vor dem militärischen Ehrengeleit reisen wir wieder ab.

Aber natürlich war Blüm dann neugierig, wie die Zeremonie war und wie der Sarg mit dem Schiff auf dem Rhein nach Speyer gebracht worden war. Deshalb das Mittagessen in Bonn, in der Südstadt, zwei Minuten von seinem Reihenhausaltbau entfernt, wo GOETHE an der Klingel steht, und darunter ganz klein: "war hier nie".

Norbert Blüm war 16 Jahre lang Arbeits- und Sozialminister, von 1982 bis 1998. Er war der Einzige, der den Kabinetten von Helmut Kohl vom ersten bis zum letzten Tag angehörte. Kurz danach zerbrach ihre Beziehung, Anfang des Jahres 2000. In Kohls Spendenaffäre kritisierte Blüm öffentlich, dass der langjährige Chef sein angebliches Ehrenwort, die Namen der Geldgeber nicht zu nennen, über Verfassung und Gesetz stellte. Solche Kritik war etwas, das Helmut Kohl für Verrat hielt, und wem der Mann übel nahm, dem nahm er übel für immer. Geißler, Süssmuth, Schäuble, Späth, Weizsäcker, seine beiden Söhne, sein Fahrer oder eben Blüm - mit vielen, die zuvor zu seinem Leben gehörten, sprach Kohl zeitlebens kein Wort mehr.

Norbert Blüm war ein vom Herzen gebildeter Mensch, auf keinen Fall einer, der unversöhnt mit jemandem bleiben wollte, der ihm einst etwas bedeutete, erst recht nicht im Alter. Also erzählte er bei jenem Mittagessen, dass er Kohl einige Zeit zuvor einen Brief geschrieben hatte, den Inhalt konnte er auswendig. Sie beide seien nun über 80, sie hätten so einen langen gemeinsamen Weg zurückgelegt, ob sie nicht ihr Zerwürfnis beilegen sollten, bevor einer von ihnen ins Grab geht. Blüm sagte: "Wenn er wenigstens zurückgeschrieben hätte: Du Arschloch, mit dir nie wieder."

Aber von Kohl kam nichts. Einfach nichts. Zur Trauerfeier fuhr Blüm gerade deshalb, obwohl er eigentlich kein Beerdigungsgänger war; "ich kriege das Feierliche einfach nicht hin", pflegte er zu sagen. Aber die Trauerfeier zu ignorieren hätte bedeutet, Gegnerschaft über den Tod hinaus zu dokumentieren.

Arbeits- und Sozialpolitik war sein Lebensthema, sie trieb ihn auch nach dem Amt um

Norbert Blüm war einer jener Politiker, deren aktive Zeit zwar schon lange zurückliegt, aber deren Name auch jungen Menschen noch geläufig ist. Er war einfach so markant: diese Nickelbrille, diese Mischung aus Angriffslust und Selbstironie schon im Blick; in Tateinheit mit Wortwitz und dem südhessisch gebliebenen Idiom stattete sie jede voll heiligem Ernst vorgetragene Empörung mit Sanftheit aus. Und dann dieser Satz von 1986, der wirklich jedem einfällt, wenn er oder sie den Namen Blüm hört. Die Rente ist sicher. "Ich bin mit ihm lächerlich gemacht worden. Aber nicht, um mich zu treffen. Sondern, um der Riester-Rente die Bahn zu bereiten."

Arbeits- und Sozialpolitik war für Norbert Blüm kein Job, sondern Lebensthema. Er rief gerne an, einfach so, meldete sich grundsätzlich nicht mit Namen, sondern mit einem Spruch. "Hier Ihr Befehlsgeber aus Bonn, ist dort meine Außenstelle Süd?" So was in der Art. Zum Auftakt unbedingt ein Scherz.

Er hatte in den Sechzigerjahren in Bonn unter anderem Theologie studiert, er und seine Frau Marita lernten sich im Hörsaal kennen, bei den Vorlesungen eines Professors namens Ratzinger, und seit dieser Zeit war Norbert Blüm ein Mann der katholischen Soziallehre. Deren Prinzipien, Subsidiarität und Solidarität, leiteten auch ihn. Der Sozialstaat soll jeden in die Lage versetzen, für sich selbst Verantwortung zu übernehmen, und wer stürzt und sich nicht (mehr) selbst helfen kann, dem wird fürsorglich geholfen. Aber bitte in dieser Reihenfolge: erst die Eigenverantwortung, und in der Not dann die Fürsorge.

Deshalb schuf der Arbeits- und Sozialminister Blüm Mitte der Neunzigerjahre die Pflegeversicherung - um die Leute zu verpflichten, Vorsorge zu treffen für die Zeit, in der sie sich nicht mehr um sich selbst kümmern können. Deswegen schuf er das Entsendegesetz, das heute auf dem Bau, in der Gebäudereinigung, bei Briefdienstleistungen und in sechs weiteren Branchen Dumping-Löhne verhindert - und damit auch, dass Arbeitnehmer von heute später, als Rentner, ein Fall für die Fürsorge werden.

Die Riester-Rente, 2002 in die Welt gesetzt von seinem unmittelbaren Nachfolger Walter Riester (SPD), wurde von Blüm immer abgelehnt. Wenn er anrief, wusste er gar nicht, wo anfangen und wo aufhören mit den Gründen: weil der Staat so sehr auf sie setzte, dass er sich um eine auskömmliche gesetzliche Rente gar nicht mehr kümmern müsse; weil sich gar nicht jeder das Riestern leisten könne; weil die Leute mit der Summe aus Rentenbeitrag plus Riester-Beitrag viel mehr aufwenden müssten, als hätte man ihnen den Rentenbeitrag einfach deutlich erhöht; weil die einzigen Profiteure dieses Konstrukts die Versicherungskonzerne seien. Blüm fand, dass die Rente nur deshalb unsicher wurde, weil Lobbyisten sie zugrunde redeten. Die Riester-Rente war ihm grundsätzlich zuwider: "Sie überführt das Sozialsystem in die Huld des Fürsorgestaates, dessen Klientel auf diesem Weg wächst."

Dann aber musste er unbedingt gleich wieder selbstironisch werden. Ein typischer Satz von Norbert Blüm, am Telefon, zum Schluss: "So, hamma wieder die Welt gerettet."

Das Schöne mit ihm war: Man wusste nie, was kommt - außer dass es lustig und lehrreich werden würde. Zum Beispiel: "Wenn du Krach haben willst, darfst du dich nicht erst auf Small Talk einlassen. Sie können ja nicht nach zehn Minuten umschalten und sagen, danke der Nachfrage, aber Sie sind ein Schwein."

Bei Blüms Treffen mit Pinochet hatten die beiden "innerhalb von 30 Sekunden Krach"

Er sagte das, als er von seinem Besuch 1987 bei Augusto Pinochet erzählte, dem chilenischen Diktator. Unter dem Vorwand eines Rentenabkommens war er in das Land gereist, in Wahrheit wollte er sich für 16 politische Gefangene einsetzen, die zum Tod verurteilt waren. Blüm ging rein zu Pinochet, der saß "auf 'nem Thron, ich 'ne Stufe tiefer, wir hatten innerhalb von 30 Sekunden Krach". Weil Pinochet sich zu einem frommen Katholiken erklärte und Blüm erwiderte, das werde ihm später auch nicht helfen, denn "der, vor dem Sie beten, kennt jeden, den Sie umbringen ließen, mit Adresse und Uhrzeit".

Muss man auch erst mal schaffen: das so zu sagen und durchzuhalten. "Jetzt lach' ich drüber, aber damals hatte ich ganz schön Schiss in der Hose." Am Ende ließ Pinochet die 16 frei und nach Deutschland reisen, stornierte jedoch vor Wut einen Auftrag über Hunderte Lkw aus Bayern; woraufhin bei Franz Josef Strauß die Wut ausbrach (auf Blüm, nicht auf Pinochet); woraufhin es zu einer Sitzung des Bundestags kam, in der die Union ihren Arbeitsminister nicht reden lassen wollte; woraufhin die Grünen ihm fünf Minuten ihrer Redezeit überließen.

Viele Menschen sind politisch und weltanschaulich immer klar zu verorten, und legen auch Wert darauf. Blüm war genau das Gegenteil wichtig, er wollte Herr im eigenen Kopf bleiben, wie er das nannte. Während des Kalten Krieges ärgerte ihn, dass Linke sich nur für die Unterdrückten in reaktionären Regimen interessierten (also in Chile oder Argentinien), Konservative sich wiederum nur für die Zustände bei Erich Honecker und in der Sowjetunion zuständig fühlten. Und er fand, wenn man als Christdemokrat den Honecker mit Recht für einen Unterdrücker hält - warum es ihm dann nicht ins Gesicht sagen, wenn er schon nach Bonn kommt? Kohl lud 1987 seinen Arbeitsminister zum Empfang dieses Gastes vorsichtshalber lieber nicht ein.

Sein letztes Buch schrieb Norbert Blüm vor drei Jahren, im Untertitel heißt es "Einsichten eines linken Konservativen", und darin deutete er bereits an, was er von Kindheit an als das Kontinuum seines Lebens empfand: zwischen den Stühlen zu sitzen.

Geboren wurde er am 21. Juli 1935 in Rüsselsheim, "Mutter streng katholisch, Vater lau evangelisch". Eine solche "Mischehe" galt damals als anstößig, bei den Messdienern fühlte er sich als nicht dazugehörig. Während des Krieges lebte die Familie zwei Jahre in Schafhausen, ein Dorf in Rheinhessen, heutiges Rheinland-Pfalz. Jeder Schüler durfte abwechselnd morgens die Schulglocke läuten; damit wurde angekündigt, dass der Lehrer auf seinem Fahrrad in Sicht war. Der Einzige, der nie läuten durfte: Norbert, das Kind mit dem Rüsselsheimer Migrationshintergrund. Später lernte er zunächst Werkzeugmacher bei Opel, 1949 trat er der IG Metall bei, im Jahr darauf der CDU. "Bei den Schwarzen war ich der Rote und bei den Roten der Schwarze." Im Bundestag gehörte er Anfang der Siebzigerjahre zu den vier Abgeordneten der Union, die die Ostpolitik von Willy Brandt, dem SPD-Kanzler, unterstützten. Die kommunistischen Herrscher von Polen verweigerten ihm trotzdem die Einreise, die Sowjets wiesen ihn aus. Denn dieser Christdemokrat fand zwar Wandel durch Annäherung gut, aber nicht "Annäherung durch Leisetreterei".

Norbert Blüm, Ehemann, Vater von drei Kindern, Großvater von sechs Enkeln, blieb bis ins hohe Alter ein agiler, umstandsloser Mensch. Lud man ihn zur Weißwurst ein, aß er die Wurst mit der Haut. Warum liegen lassen, was schmeckt. (Für Rheinländer und andere Norddeutsche: Dass ein eingeborener Bayer die Haut der Weißwurst mitisst, kommt in etwa so oft vor wie ein Fußball-Bundesligaspiel in diesem April.) Als über 80-Jähriger legte er sich vor vier Jahren im nordgriechischen Grenzdorf Idomeni zu syrischen Flüchtlingen ins Zelt, aus Solidarität. So wollte er Aufmerksamkeit schaffen für die Menschen, die die Europäer dort im Schlamm stecken ließen.

Einmal, vor Jahren, traf man ihn für ein Interview auf einem finnischen See, dem Huosiolampi. In einem Boot, das leck war. Mal ruderte Blüm, mal schöpfte er mit einer Kaffeetasse das Wasser aus dem Boot. Man selbst stellte die Füße in die Seiten, in der einen Hand das Aufnahmegerät, in der anderen ein Glas, auf dem Schoß der Zettel mit den Fragen. So glitt man in der Mitternachtssonne dahin, bis irgendwann der Weinkarton leer war.

Seit den Siebzigerjahren fuhren Blüm und seine Frau im Sommer dorthin, der Huosiolampi kommt in kaum einem Reiseführer vor. Wer zufällig mal da war, erkannte Blüms Reiseziel vielleicht daran, dass links neben der Tür des einzigen Ferienhauses am Südufer ein Thron aus Kiefernholz den Eingang flankierte; mit sehr tiefer Sitzfläche, ein Geschenk für diesen Stammgast aus Bonn, zu dessen 70. Geburtstag.

Manche Wünsche in einem langen Leben gehen nicht in Erfüllung, zum Beispiel die Versöhnung mit Kohl. In dem Interview auf dem See erzählte Blüm, wie er Anfang 2000 beim früheren Kanzler anrief. Er wollte ihm erklären, warum er öffentlich auf Distanz gegangen war. Juliane Weber hob ab, die nicht nur Kohls Büroleiterin war, sondern auch viele Jahre bei Blüms in der Mansarde gewohnt hatte. Weber sagte, Kohl sei nicht da, Blüm erinnerte sich, dass "ich ihn im Hintergrund schreien hörte", Weber sagte, Kohl rufe zurück. Blüm: "Darauf warte ich heute noch."

Die SZ-Leser bekamen diese Passage damals nicht zu lesen. Zwei Tage bevor das Interview erschien, gab es Gerüchte, Kohl gehe es sehr schlecht, Blüm bat darum, die Stelle zu streichen. Nichts wäre ihm unangenehmer gewesen, als womöglich am Tag von Kohls Tod mit so einer Form von Vergangenheitsbewältigung aufzutreten. Kohl erholte sich dann noch mal, Blüm erzählte die Geschichte später in einem anderen Interview und versuchte es, gut anderthalb Jahrzehnte nach dem Anruf, mit dem Brief. Auf den es dito keine Antwort gab.

Manche Kreise schlossen sich in so einem langen Leben, etwa in Santiago de Chile

Die Verbindung zum Professor Joseph Ratzinger hingegen hielt. Der tat ihm zwar in den Neunzigerjahren, als Chef der Glaubenskongregation im Vatikan, nicht den Gefallen, bei den deutschen Bischöfen für die Abschaffung des Pfingstmontags zu werben. "Das müssen Sie schon selber machen", sagte Ratzinger dem Minister aus Bonn, der zur Finanzierung seiner neuen Pflegeversicherung einen Feiertag zum Streichen suchte. Es wurde dann der evangelische Buß- und Bettag.

Als Ratzinger später der emeritierte Papst Benedikt war, lud er seine früheren Studenten Norbert und Marita Blüm zum Mittagessen ein, in seine Unterkunft im Vatikan. Normale Menschen würden bei der Gelegenheit wahrscheinlich Gespräche über alte Zeiten führen, über diesen und jenen. Und ein Ex-Papst? Macht genau das auch. Blüm erzählte danach, dass es um den Rüfner, den Jedin und den Böckle ging, die drei nahmen die Professoren von damals durch. Rüfner war Blüms Lehrer im Fach Philosophie, Rüfner und Ratzinger trafen sich früher immer in der Tram zwischen Godesberg und Bonn - und Benedikt, also Ratzinger, erinnerte sich, wie Rüfner ihm während der Fahrt diktierte, was er nachher den Studenten sagen solle.

Und manche Kreise schließen sich, in so einem langen Leben. Nach Santiago de Chile fuhr Blüm Jahre später erneut, privat, Pinochet war nicht mehr im Amt. Er und seine Frau spazierten durch die Markthalle, da trat einer auf ihn zu und fragte: "Sind Sie Norbert Blüm?" Blüm sagte ja, worauf der Mann ihm um den Hals fiel, ihn küsste und Weinkrämpfe bekam. Blüm dachte, was für ein Verrückter ist das jetzt? Der Mann sagte, er sei einer von den 16, die Blüm einst vor Pinochet gerettet hatte.

In Schafhausen, dem Dorf mit der Schulglocke, war er auch wieder, 13 Jahre ist das her; als er damals den Ortsvorsteher traf, fragte er, ob er einmal, nur einmal, diese Glocke läuten dürfe. Natürlich durfte er, zum Erstaunen des Dorfes bimmelte es an einem Sonntagnachmittag um halb drei. War zwar kein Handbetrieb mehr wie damals, man drückte bloß einen Schalter, aber egal. Manche Wünsche gehen auch 64 Jahre danach noch in Erfüllung.

Vor einem Jahr erlitt Norbert Blüm eine Blutvergiftung, die er vor einigen Wochen öffentlich machte, nachdem er nach neun Krankenhausmonaten in sein Haus zurückgekehrt war. Es war umgerüstet worden für den an Armen und Beinen gelähmten Menschen, ein 24-Stunden-Dienst kümmerte sich um ihn. Wie gut, dass es heutzutage eine Pflegeversicherung gibt, in die man einzahlen muss, für den Fall der Fälle. Auf die scherzhafte Frage, wer die wohl erfunden habe, gab der Patient zurück: "Irgend so einer." Neben den Pflegerinnen und der Liebe seiner Familie war es wohl sein Humor, der ihn noch fast ein Jahr lang im Leben hielt. Aber nun konnte sein Körper nicht mehr, am Donnerstagabend ist Norbert Blüm gestorben, daheim.

Wer ihn kannte, wird sich erinnern an vielleicht den einzigen Menschen, mit dem man sich über privates Unglück und großes Unrecht ereifern konnte - und danach besser gelaunt war als davor.

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SZ vom 25.04.2020
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